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Blitze des Bösen

Blitze des Bösen

Titel: Blitze des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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kannte
jeden Riß im Verputz, jede Ecke, wo die Farbe abblätterte.
    Was würde Danny von ihr denken, wenn er sie jetzt sehen
könnte?
Aber er konnte sie nicht sehen, denn er würde nie mehr nach
Hause kommen.
Was machte es deshalb aus, wo sie wohnte? Was machte es,
daß sie nicht mehr in der ruhigen kleinen Wohnung lebte, die
sie in Yesler Terrace mit ihm geteilt hatte – früher, als sie noch
glaubten, die Dinge würden sich für sie beide zum Besseren
wenden? Danny konnte nicht wissen, wo sie wohnte, denn
Danny war tot.
Und Sheila wußte, wer ihn getötet hatte.
Richard Kraven hatte ihren achtzehnjährigen Sohn ermordet,
so wie er all die anderen ermordet hatte. Sheila wußte es tief in
ihrem Innern. Diese Gewißheit brannte in ihr, verzehrte ihre
Seele, genauso wie der Wein, den sie trank, um das Feuer zu
löschen, das in ihrem Körper brannte.
Aber weil Danny jetzt nicht mehr bei ihr war, interessierte
das auch niemanden.
Niemand hatte sich darum gekümmert, als sie versucht hatte,
die Polizei dazu zu bringen, etwas für Danny zu tun. Dabei
hatte sie alles richtig gemacht. Jeden Tag war sie zum Revier
gegangen, hatte die richtigen Formulare ausgefüllt und mit den
richtigen Leuten gesprochen. Aber sie hatte gemerkt, daß das
niemanden interessierte, und sie wußte auch, warum.
Weil sie Indianerin war.
Keine amerikanische Ureinwohnerin, keine aus diesem
stolzen Volk, von dem Danny immer gesprochen hatte.
Nein, Sheila Harrar war eben nur eine Indianerin. Und
obwohl man ihr das nicht offen ins Gesicht sagte, wußte sie,
was man über sie dachte. Und ihr Sohn war wie sie – auch nur
ein Indianer. Wahrscheinlich glaubten sie, daß er sich
betrunken und aus dem Staub gemacht hatte, ohne seiner
Mutter Lebewohl zu sagen. Als sie geschrien hatte, daß das
nicht wahr sei, daß Danny zur Schule gegangen war und
gearbeitet hatte, hatten sie ihr das nicht geglaubt. Wären Danny
und sie Weiße, hätte alles ganz anders ausgesehen. Dann hätten
sich die Behörden Mühe gegeben, hätten versucht, ihn zu
finden. Aber weil sie und Danny Indianer waren, scherte sich
um sie niemand auch nur einen verdammten Dreck.
Als Danny an diesem Tag nicht nach Hause gekommen war,
war auch Sheila in völlige Gleichgültigkeit versunken und hatte
nicht mehr darüber nachgedacht. Aus Schmerz über seinen
Verlust hatte sie begonnen zu trinken, das schien ihre Qualen
zu lindern. Und nach kurzer Zeit trank sie schon soviel, daß sie
manchmal nicht mehr den Weg zu ihrem Arbeitsplatz schaffte.
Daraufhin hatte sie einen Job bekommen, den sie erst am
Nachmittag antreten mußte. Das war eine Zeitlang
gutgegangen – bis sie angefangen hatte, die ganze Nacht
durchzusaufen und den folgenden Tag zu verschlafen. Danach
hatte sie zwar noch andere Jobs gefunden, war aber nie lange
dabeigeblieben, denn es war mit ihrer Trinkerei immer
schlimmer geworden. Schließlich war sie aus ihrer Wohnung in
das Hotel im International District gezogen.
Seit damals war ein Tag wie der andere gewesen. Sie schlief
in ihrem winzigen Zimmer, versprach sich selbst, daß sie am
nächsten Tag alles ändern würde – aber jeder Tag wurde zum
Spiegelbild des vorangegangenen.
Doch als sie jetzt noch einmal den Artikel über den Mann,
der ihren Sohn ermordet hatte, las, wußte sie, daß der heutige
Tag anders war. Heute würde sie es wirklich schaffen, nichts
trinken und vielleicht sogar eine Arbeit finden.
Aber das Wichtigste war, mit Anne Jeffers zu sprechen. Sie
würde ihr zuhören, und sie würde ihr glauben, und obwohl das
Danny nicht wieder zurückbrächte, würde ihr es zumindest
helfen. Wenn sie erst einmal jemanden kannte, den das, was
mit Danny geschehen war, nicht gleichgültig ließ, würden
vielleicht auch ihre Qualen ein wenig nachlassen.
Sie ließ die Zeitung auf dem ungemachten Bett liegen, ging
in die Hotelhalle und weiter zu den Münztelefonen am entgegengesetzten Ende des Flurs. Sie blättere in dem zerfetzten
Telefonbuch herum, das an einer Kette neben dem Telefon
hing, und betete, daß die Seite, die sie brauchte, nicht zerrissen
sein würde. Dann fand sie die gesuchte Nummer, griff in die
Tasche ihrer Jeans und fischte eines der 25-Cent-Stücke, die sie
letzte Nacht von jemandem geschnorrt hatte, heraus. Einen
Moment lang zögerte sie, die Münze einzuwerfen, als sie an
den Wein dachte, den sie dafür kaufen konnte.
Aber Danny war wichtiger.
Sie warf die Münze ein, wartete auf das Freizeichen und

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