Blitze des Bösen
lag, ein Buch las, während im Hintergrund der Fernseher
in voller Lautstärke lief. »Wenn du schon nicht fernsiehst, dann
mach doch wenigstens den Apparat aus«, tadelte sie.
»Aber ich seh’ doch fern«, antwortete Kevin, ohne von seinem Buch aufzuschauen.
Anne wollte sich mit ihm nicht streiten. Hätte sie verlangt,
daß er das Gerät ausschaltet, hätte er alle Details einer Handlung aufgesagt, um zu beweisen, daß er den Film verfolgt hatte.
Dieses Talent war ein Erbteil ihres Vaters, der gleichzeitig ein
Buch lesen, einer Unterhaltung folgen und dazu noch jeden
Fehler hören konnte, den sie bei ihren Klavierübungen im
Nebenzimmer machte. Das war eine Fähigkeit ihres Vaters, die
sie einerseits beeindruckt, andererseits furchtbar geärgert hatte.
Bei Kevin hatte sie dies oft verwünscht, weil er dadurch alle
ihre Argumente, während der Schularbeiten nicht fernzusehen
immer wieder entwaffnete. »Ich geh rüber ins Krankenhaus zu
deinem Vater.«
Kevin schaute von seinem Buch hoch. Anne spürte, daß ihr
Ton ihre Sorge verraten hatte. »Stimmt etwas nicht?« fragte er.
Anne schüttelte den Kopf. »Ich wollte sowieso einen Spaziergang machen, dabei kann ich ihn auch gleich besuchen.«
»Okay.«
»Ich sag’ Heather, daß sie zu Hause bleiben soll.«
Kevin rollte mit den Augen und sagte: »Meine Güte, ich bin
doch kein Baby mehr. Ich bin hier sowieso die ganze Zeit
allein.«
Aber nicht nachts, dachte sie. Um sich keinem weiteren
verächtlichen Blick ihres Sohnes auszusetzen, gab sie ihm
einen Kuß auf die Stirn. »In einer Stunde bin ich wieder
zurück. Mach bis dahin keinen Unsinn!«
Die Nachtluft war frostig geworden. Auf ihrem Weg zur 16.
Straße vergrub Anne ihre Hände tief in den Taschen. Als sie in
die Mercer Street kam, hier wurde die Gegend allmählich
schlechter, bog sie lieber rechts in die 15. Straße ein. Von dort
aus ging sie zur Thomas Street und betrat den Krankenhauskomplex durch den Eingang zur Notaufnahme. Sie
durchlief endlose Korridore, bis sie schließlich bei den
Aufzügen war, die zur Intensivstation im dritten Stock fuhren.
Sie nahm das rote Telefon im Wartezimmer, stellte sich vor,
und einen Augenblick später erschien auch schon Annette
Brady.
»Ihr Mann schläft zwar gerade, aber wenn Sie wollen, können Sie ruhig für eine Minute zu ihm hinein.«
»Wie gehts ihm?« erkundigte sich Anne, als die Schwester
sie in sein Zimmer begleitete.
»Jetzt wieder viel besser. Ich glaube, er ist nach dem Essen
eingeschlafen, und nach dem Aufwachen hat er sich wieder
ganz anständig benommen. Aber offen gesagt: Wenn ich Sie
wäre, würde ich ihn jetzt nicht wecken. Das Beste ist, ihn
schlafen zu lassen.«
Die Schwester öffnete leise Glens Tür, und Anne schaute
hinein. Die Straßenbeleuchtung, die durchs Fenster fiel, tauchte
sein Gesicht in sanftes Licht. Obwohl er noch immer an die
Geräte angeschlossen war, sah er fast schon wieder so aus wie
der Mann, den sie geheiratet hatte. Die letzten Spuren ihrer
Wut auf ihn lösten sich in Luft auf, ebenso die Sorge über sein
seltsames Verhalten. Sie fühlte sich jetzt wesentlich besser und
trat einen Schritt zurück, damit Annette Brady die Tür wieder
schließen konnte.
»Jetzt komme ich mir ziemlich blöd vor«, gestand Anne, als
sie mit der Schwester zum Ausgang ging. »Es hätte wohl
gereicht, wenn ich angerufen hätte. Aber auf einmal überkam
mich ein großes Verantwortungsgefühl für meinen Mann.
Wissen Sie, es ist dasselbe, wie ich es für meine Kinder hatte,
als sie Babies waren. Wenn man hört, daß alles okay ist, ist das
nicht ausreichend, man glaubt es wirklich erst dann, wenn man
es selbst gesehen hat.«
»Das verstehe ich gut«, bestätigte ihr die Schwester. »Glauben Sie mir, Ehefrauen von Patienten kommen die ganze Nacht
über, egal wie spät es ist. Ehemänner dagegen tauchen selten
zu ungewöhnlichen Zeiten auf. Schon erstaunlich, wie wenig
der Beschützerinstinkt bei amerikanischen Männern ausgeprägt
ist.« Anne ging Richtung Aufzug und winkte der Schwester
noch einmal zu. Die ermahnte sie, auf dem Heimweg
vorsichtig zu sein und rief: »Denken Sie daran, daß die Frau,
die ermordet wurde, nur wenige Häuserblocks von hier entfernt
wohnte.«
Und sie war eine Nutte gewesen, die sich den falschen Freier
ausgesucht hatte, dachte Anne, als sie im Aufzug nach unten
fuhr. Aber gleichzeitig machte sie sich auch klar, daß
Shawnelle Davis damit nur ihren Lebensunterhalt bestritten,
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