Blitze des Bösen
sich die Stelle anzuschauen, wußte aber, daß sie Kevin nach Hause bringen mußte, bevor ihre Eltern herausbekamen, daß er sich hier herumtrieb. Zusammen mit Rayette ging sie zu ihm hin und hörte,
wie er und sein Freund Justin sich daran ergötzten, einem halben Dutzend Leuten die Geschichte von dem Leichenfund zu
erzählen.
»Der ganze Platz war voller Blut«, erklärte er. »Und sie war
in Stücke gerissen. Boots hat an ihrem Arm herumgekaut
und…«
»Kevin!« schrie Heather, packte ihren Bruder und hielt ihm
die Hand vor den Mund. »Komm jetzt! Wir gehen sofort nach
Hause.«
Kevin sträubte sich und schaffte es zumindest, seinen Mund
freizubekommen. »Hilfe! Sie will mich kidnappen!«
Die Leute, die Kevin gerade noch atemlos gelauscht hatten,
amüsierten sich jetzt, wie er versuchte, sich seiner Schwester
zu entwinden.
»Hat deine Mutter wirklich die Leiche gefunden?« wollte
jemand von Heather wissen.
»Oje!« stöhnte sie. »Warum ist Mom heute morgen bloß
hierhergekommen!« In dem Moment schnappte Rayette sie am
Arm und zog sie zu der Stelle, wo die Leiche gefunden worden
war. Rayette stand neben ihrer besten Freundin, aber mit all
dem Mut, den sie gerade noch so demonstrativ gezeigt hatte,
war es nun vorüber. Doch genau wie Heather war es ihr
unmöglich, einfach wegzulaufen.
Beide Mädchen mußten hinschauen.
Schon als sie sich den Weg durch die Leute gebahnt hatten,
war kaum etwas zu sehen gewesen: nur einige Reste von
Plastikbändern und eine kleine Fläche am Boden, die von herabgefallenen Blättern gereinigt worden war.
Gerade die Tatsache, daß man eigentlich nichts erkennen
konnte, verlieh dem Ort eine Ausstrahlung von Einsamkeit und
Verlassenheit. Mit Schaudern gestand sich Heather ein, daß
ihre Einbildungskraft nicht ausgereicht hatte, um sich das
vorzustellen, was ihre Mutter wirklich gesehen hatte. Obwohl
Joyce Cottrells Leiche längst fortgeschafft worden war, erfüllte
Heather bei diesem Anblick eine Kälte, die nichts mit der des
Nachmittags zu tun hatte. »Komm«, sagte sie und griff
unwillkürlich nach Rayettes Hand, »laß uns heimgehen.«
Kevin folgte einen Moment später.
Kein Wort fiel zwischen den dreien. Sie bogen um die Ecke
der 16. Straße und setzten dann ihren Weg zum Haus der Jeffers fort.
Dort blieben sie stehen, und starrten auf das Haus, das dem
der Jeffers’ plötzlich bedenklich nahe zu liegen schien. Rayette
fand als erste ihre Stimme wieder. »Es… es sieht nicht so aus
wie sonst, oder?«
Eine lange Minute starrten alle drei auf das bedrohlich
anmutende Gebäude. Bis zum heutigen Tag war es nur das
Heim einer verschrobenen Frau gewesen, die von den kleineren
Kindern gefürchtet, von den Erwachsenen verspottet wurde.
Jetzt war es ringsum abgesperrt, und auf dem gelben
Plastikband stand TATORT – BETRETEN VERBOTEN.
»O Gott«, schnaufte Rayette. »Sie muß genau hier getötet
worden sein.« Sie drehte sich zu Heather um. »Hast du keinen
Schrei oder sowas gehört?«
Heather schüttelte den Kopf. Sie konnte ihre Augen nicht
von dem Haus abwenden. Im zweiten Stock lag das Zimmer, in
dem Mrs. Cottrell höchstwahrscheinlich geschlafen hatte.
Wenn sie arbeiten war, gingen im ganzen Haus alle Lichter
ständig aus und an. Alle in der Straße wußten, daß sie an einen
Zeitschalter gekoppelt waren. Aber wenn sie zu Hause war,
war nur dieses Zimmer im zweiten Stock erleuchtet gewesen.
Und das lag genau Heathers eigenem Schlafzimmer
gegenüber.
Mit einem Mal erschien es ihr unheimlich wichtig, sich
genau an das zu erinnern, was letzte Nacht passiert war. Sie
versuchte, den Abend zu rekonstruieren. Ihre Eltern hatten
Streit gehabt – na ja, keinen richtigen Streit. Aber die Atmosphäre im Haus war angespannt gewesen, und deshalb hatte sich
die Familie auch nicht wie sonst immer im Wohnzimmer
versammelt, ferngesehen oder gelesen. Statt dessen war sie in
ihrem Zimmer geblieben, auch nachdem sie ihre Hausaufgaben
gemacht hatte, und Kevin in seinem. Von ihrer Mutter wußte
sie, daß sie früh zu Bett gegangen war, während ihr Vater
unten geblieben war und eine Weile gelesen hatte. Aber spät
war es auch bei ihm nicht geworden; schon kurz vor zehn hatte
er bei ihr angeklopft und gute Nacht gesagt. Nicht lange
danach war sie selbst ins Bett gegangen, hatte noch ein paar
Minuten gelesen und war dann eingeschlafen.
Zu dem Zeitpunkt war Mrs. Cottrell noch nicht zu Hause
gewesen. Heather wußte das, weil sie fast eine Stunde an
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