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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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wurde nur durch die glückliche Versetzung auf einen Minenleger gerettet, durch die er anständige Mahlzeiten bekam und seiner Frau und Tochter seine Lebensmittelkarten überlassen konnte.
    Das Leningrader Parteikomitee schloss im Winter offiziell 270 Fabriken, doch die meisten erfüllten ohnehin kaum ihren Zweck, und auch die letzten verbliebenen Rüstungswerke konnten nur noch unregelmäßige Reparaturen verrichten. 19 Olga Gretschina, die durch den Tod ihrer Mutter im Januar verwaist war, stand nachts Wache in ihrer stillgelegten Raketenfabrik. Allein in den leeren Werkhallen, verbannte sie ihre Furcht, indem sie H.G. Wells’ Krieg der Welten im Licht einer »Fledermaus« las (die diensthabende Person erhielt das beste Buch, damit sie sich von den Ratten, die »widerlich und unaufhörlich« über die Betonfußböden eilten, ablenken konnte). Wenn sie nicht im Dienst war, saß sie in der Wärme des Pförtnerzimmers und löste Kiefernnadeln, die für die Herstellung von Vitamin-C-Getränken verarbeitet werden sollten, von den Zweigen. Dies war eine weitere Nahrungsergänzung, welche die Forstakademie ersonnen hatte. Für diese Tätigkeit wurde Olga jeden Morgen um zwei Uhr mit einer einzigen Mahlzeit (Suppe und Brei) bezahlt.
    Von den 270 Arbeitern der Werkhalle 15 von Wassili Tschekrisows Sudomech-Werft waren 47 bis Ende Januar gestorben. »Wie viele im Februar umkommen werden, weiß niemand. Nur siebzig erscheinen zum Anwesenheitsappell in der Fabrik oder in der Kantine. Alle anderen sind bettlägerig … Geschickte Facharbeiter, das Rückgrat des Werkes, sind gestorben … Nur ein paar Männer führen Reparaturen aus, und man kann eigentlich nicht von Arbeit sprechen. In Wirklichkeit treten sie nur auf der Stelle.« 20 Die üblichen strengen Strafen für die Abwesenheit vom Arbeitsplatz hatten keine Wirkung mehr. In der Marti-Werft wurde Anfang Februar in einem Bericht an Schdanow geklagt:
    Hunderte erscheinen nicht zur Arbeit, und niemand schenkt dem die geringste Aufmerksamkeit. Jeden Tag steigt die Zahl der unerlaubt Abwesenden … Nachdem das Bezirksparteikomitee der Werksleitung mitgeteilt hatte, dass Bummler durch ihr Verhalten geschützt würden, ging man im Lauf von zwei Tagen gerichtlich gegen 72 Abwesende vor. Aber damit waren die Fehler [der Werksleitung] noch nicht beendet. Von den 72 Fällen musste die Hälfte wegen Beweismangels eingestellt werden. 21
    Das Hochschulleben setzte sich erstaunlich lange fort. Der Iranologe Alexander Boldyrew hielt Ende Dezember immer noch Seminare in der Eremitage ab (und tadelte seine Studenten, wenn sie schlechte Arbeit leisteten). Der Kunsthistoriker Nikolai Punin tat bis Ende November das Gleiche. Im Erisman-Krankenhaus hielt der Pathologe Wladimir Garschin während der Luftangriffe Vorlesungen und führte am Ende des Wintersemesters, während viele seiner Studenten in ihren Wohnheimen starben, Prüfungen durch. (Ihm fiel auf, dass die ledigen Männer als Erste zusammenbrachen, während Mädchen und Ehepaare länger durchhielten.) Die einzige Methode zu überleben, dachte er, bestehe darin, weiterzuarbeiten:
    Also erfinden wir Beschäftigungen für die Laborassistenten, nur damit sie etwas zu tun haben. Es ist schlecht, wenn man aufhört zu arbeiten und sich hinlegt, denn es gibt keine Garantie dafür, dass man wieder aufsteht. Eine der Assistentinnen starb direkt im Labor. Sie wurde am Morgen unter einem warmen Schal gefunden, zusammengekrümmt und mit neuen Filzstiefeln an den Füßen. Sie hatte nicht heimfahren können, weil ihre Wohnung zu weit entfernt war. Der Ehemann einer anderen Assistentin kam während eines Artilleriesperrfeuers auf der Straße um. Sie nahm sich zwei Tage frei und kehrte dann an die Arbeit zurück; ihr von Wassersucht geschwollenes Gesicht war durch die Tränen noch aufgedunsener. Sie schweigt. Geht die Arbeit weiter? Ja, irgendwie. Am wichtigsten ist es, nicht aufzugeben. Die Examina finden statt, und ich nehme die mündlichen Prüfungen ab – ihre Leistungen sind nicht schlecht! Also ist von den Vorlesungen doch etwas hängen geblieben! Und die Prüferin, meine Assistentin, befragt sie gründlich, aber sanft. Woher haben sie die Kraft? 22
    Vera Inber war dabei, als der Chefarzt des Erisman-Krankenhauses seine Dissertation im Luftschutzkeller verteidigte; sein Erfolg wurde später mit verdünntem Spiritus begossen. 23
    Besonders die bekannteren Institutionen lieferten auch an den schlimmsten Tagen des Winters eine trotzige, fast

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