Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
und mit der anderen bezahlten sie einen Mann, der aus einem Eimer eine burschuika für sie herstellte. Beheizt mit zerbrochenen Möbeln und den alten Personalakten des Hotels – Marina und ihre Schwester sichteten Bewerbungsschreiben von längst verschwundenen Weinkellnern und Konditoren, bevor sie die Papiere in die Flammen warfen –, machte der Ofen das Zimmer zur »Arche« der Jeruchmanowas. Zwei Krankenschwestern zogen ein, eine davon mit ihrer alten Mutter. Finstere Äußerungen waren nicht erlaubt, und alle zogen sich täglich nackt aus, damit sie ihre Kleidung gegenseitig nach Läusen durchsuchen konnten. Doch die »Arche« konnte nicht alle tragen. Ein Cousin, der zwölfjährige Ljoscha, kam Anfang des neuen Jahres zu Besuch:
Der kleine Junge hatte das letzte Hungerstadium erreicht. Er war ein einziges Ödem – die Flüssigkeit hatte seinen Körper so sehr anschwellen lassen, dass es schien, seine Haut werde nicht standhalten … Wir richteten ihn irgendwie auf und gaben ihm etwas zu essen. Wie eine festgefahrene Schallplatte wiederholte er ständig, dass er innerhalb einer Woche sterben werde, seine Mutter vielleicht noch eher, und so weiter und so weiter. Wir saßen da und hörten ihm zu, doch unsere Gefühle waren so abgestumpft … Wir lebten nur, um zu leben. Gedanken und Emotionen kamen zum Stillstand.
Überall in der Stadt kamen die Institutionen – Schulen, Fabriken, Banken, Postämter, Polizeireviere, Universitäten – auf ähnliche Weise zum Stillstand, obwohl Mitarbeiter, die noch genug Kraft besaßen, weiterhin wegen der Wärme, der Kameradschaft und der Chance auftauchten, in der Kantine einen Teller Wassersuppe zu erhalten. »Morgens«, schrieb Lasarew über sein Optikinstitut, »saßen wir schweigend, mit gebeugtem Kopf, um den Ofen herum. Stundenlang, ohne uns zu bewegen, ohne ein Wort. Wenn das Feuerholz verbraucht war, brannte der Ofen nicht mehr. Obgleich sich auf dem Hof ein großer Holzstapel befand, war niemand mehr in der Lage, Scheite zu hacken und sie die Treppe hinaufzutragen. Stattdessen warteten wir in der Kälte bis zum Mittagessen. Danach gingen wir heim.« Als Erste (zum Beispiel in Georgi Knjasews Wissenschaftlergebäude und in Olga Gretschinas Wohnblock) hielten die Angehörigen des Hilfspersonals nicht mehr stand. »Die alte Putzfrau ist gerade an Hunger gestorben«, schrieb er am 25. Dezember. »Noch vorgestern hat sie meinen Schreibtisch abgestaubt. Anscheinend ging sie nach Hause, legte sich aufs Bett, streckte die Arme aus, seufzte und starb. Heute, als ich das Labor betrat, sah ich die Leiche unseres kürzlich verstorbenen Wächters im Nachbarzimmer.«
Im Unterschied zu der Putzfrau hatte Lasarew Zugang zum Wissenschaftlergebäude, einem Club für Hochschullehrer. Dies war ein im neunzehnten Jahrhundert entstandenes Bauwerk mit einer prächtigen porte-cochère , unweit der Eremitage an der Newa. Im September hatte man dort über die Rationen hinaus noch piroschki , Kaffee und Kartoffeln erhalten können, doch nach der Straffung der Vorschriften für den Lebensmittelverkauf wurden nur noch Suppe und süßer Tee angeboten. »In dem eiskalten Saal«, schrieb Lasarew,
windet sich eine lange Schlange die Marmortreppe hinauf. Die Menschen stehen schweigend da und warten. Fast jeder trägt eine Aktenmappe über der Schulter; darin verbirgt sich ein Behälter, in dem eine Mahlzeit zur Familie heimgebracht werden soll. Das Warten scheint endlos zu sein. Besonders kühl ist es, wenn man neben dem massiven Marmorgeländer steht, denn von ihm geht eine merkliche Kältewelle aus. Endlich sind wir an der Reihe, und wir betreten die Kantine. Durchgefroren, in Pelzmänteln und Hüten, setzen wir uns an die freien Tische. Nach einiger Zeit beginnt ein flüchtiges Gespräch. Ein Zoologe, hochgewachsen und früher übergewichtig, beschwert sich darüber, dass Personen von unterschiedlicher Größe die gleiche Lebensmittelmenge zugeteilt wird. »Hört mir zu, größere Männer …«, aber niemand achtet auf ihn, denn Katjuscha nähert sich unserem Tisch mit ihrer Schere und der Streichholzschachtel für die Gutscheine. Sie ist unsere Lieblingskellnerin, denn sie scheint die Gäste schneller zu bedienen und ihre Portionen sind ein wenig größer. Die Menschen kommen mit ihren eigenen Tellern und Löffeln in die Kantine. Der angesehene grauhaarige Professor leckt seinen Teller sauber, bevor er ihn in seine Gasmaskentasche steckt. 18
Lasarew selbst erkrankte im Frühjahr schwer und
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