Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
voranschritt, brachen Rivalitäten nicht nur zwischen den vielfachen, einander in ihren Kompetenzen überschneidenden Behörden aus, die für den besetzten Teil der Sowjetunion verantwortlich waren, sondern auch zwischen Ideologen, die die große Ausrottungsvision ihres Führers unterstützten, und Pragmatikern (oftmals Balten deutscher Herkunft). Sie empfahlen eine traditionellere Kolonialpolitik, etwa die Vereinnahmung ethnischer Minderheiten – insbesondere der Ukrainer – und die Umkehrung verhasster kommunistischer Maßnahmen, beispielsweise der Schließung von Kirchen und der Kollektivierung des Bodens. Doch selbst wenn Hitler besser über die Sowjetunion informiert gewesen wäre, hätte er den Rat der Pragmatiker wahrscheinlich missachtet. Der Überfall auf die UdSSR hatte durchaus rationale Rechtfertigungen, er sollte Berlin Agrarland und Ölquellen verschaffen und ein feindliches Regime beseitigen, aber er hatte vor allem auch rassische Gründe und zielte auf einen Vernichtungskrieg ab. Bolschewiki, Juden, Slawen – sie alle wurden als Ungeziefer, Vieh, Geschwüre, Gift eingestuft, und allein ihre Existenz bedeutete ein Gräuel für den nationalsozialistischen Traum. Die Ermordung oder Versklavung dieser Menschen war nicht bloß ein Mittel im Kampf um die territoriale Vorherrschaft, sondern auch einer ihrer Zwecke.
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Barbarossa
In der Sonntagnacht des 22. Juni hielt sich die Dunkelheit von Leningrad, wie in jeder Mittsommernacht, fern. Die Sonne verschwand im Westen im stahlblauen Wasser des Finnischen Meerbusens, doch der Himmel über den Dächern schimmerte weiterhin rosa-violett, bis in den frühen Morgenstunden die Sonne erneut aufging. Um zwei Uhr morgens wurde Jelena Skrjabina durch das betäubende Getöse von Flakgeschützen geweckt. Da sie und ihre Angehörigen glaubten, dass ein Luftangriff begonnen habe (irrtümlich, denn es war nur eine Alarmübung), schlossen sie sich den Nachbarn auf der Treppe ihres Wohngebäudes an.
Unsere Wohnungsnachbarin Ljubow Kurakina, deren Mann, ein ehemaliger Parteigenosse, wegen konterrevolutionärer Anschuldigungen jetzt schon zwei Jahre im Lager sitzt, führte das große Wort. Ihre kommunistische Gesinnung geriet zwar nach der Verhaftung ihres Mannes ins Wanken, aber in dieser Nacht hatte sie unter dem Kanonendonner der Flak alle Demütigungen vergessen. Felsenfest überzeugt, sprach sie von der Unbesiegbarkeit Sowjetrusslands …
Auf einer großen Truhe saß die ehemalige Hausbesitzerin Anastasia Wladimirowna und lächelte sarkastisch. Sie machte aus ihrem Hass gegen die Sowjetregierung kein Hehl und sah im Krieg und in einem Sieg der Deutschen die einzige Rettung. 1
Skrjabina konnte sich mit beiden Standpunkten identifizieren, und sie war nicht die Einzige in Leningrad, die bei dem deutschen Angriff gemischte Gefühle hatte. Überall verband sich die Wut über die nationalsozialistische Aggression mit dem Zorn über den offenkundigen Mangel der Regierung an Verteidigungsbereitschaft. Einige, etwa Skrjabinas tollkühne Nachbarin, waren der Meinung, dass die deutsche Besatzung ein Preis sei, den es sich lohne für das Ende des Bolschewismus zu zahlen.
Bei Dmitri Lichatschows Rückkehr am Montag fand er die Stadt trist und still vor. Im Institut für Russische Literatur – untergebracht im ehemaligen Zollamt an der östlichen Spitze der Wassiljewski-Insel, heißt es heute, wie vor der Revolution, wieder offiziell Puschkinhaus – waren die Menschen ungewohnt gesprächig, obwohl sie sich wie üblich »umsahen«, bevor sie das Wort ergriffen. »Alle waren überrascht darüber, dass man buchstäblich Tage zuvor eine sehr große Menge Getreide nach Finnland geschickt hatte – es stand in den Zeitungen. A.I. Gruschkin redete am längsten und machte fantastische, doch ausnahmslos ›patriotische‹ Vorschläge.« In den Kirow-Werken, einer bedeutenden Maschinenbaufabrik, verzeichneten Spitzel die Reaktionen gewöhnlicher Arbeiter. Sprecher auf öffentlichen Versammlungen äußerten sich vorhersehbar energisch: »Ich finde keine Worte, um den unvorstellbaren Verrat der faschistischen Hunde zu beschreiben«, verkündete einer. »Unsere Pflicht ist es, uns um die Regierung und Genossen Stalin zusammenzuschließen, unser eigenes Schicksal zu vergessen und all unsere Kraft auf die Arbeit für die Front zu konzentrieren.« Aber unter vier Augen zeigten die Menschen sich wütend und verängstigt.
Genosse Martynow ließ sich in einem Privatgespräch vernehmen:
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