Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
identifizierten sich plötzlich mit ihrer Heimat. »In der Verwirrung der ersten Tage«, schrieb die damals neununddreißigjährige Literaturkritikerin Lidia Ginsburg später,
wollte man der Einsamkeit entrinnen, man wollte den Egoismus abschütteln, der die Furcht verdoppelte. Es war eine instinktive Bewegung … der ewige Traum, über sich selbst hinauszuwachsen, der Traum von Verantwortlichkeit, vom Überpersönlichen. All das äußerte sich undeutlich in einem seltsamen Gefühl der Übereinstimmung. Der Intellektuelle musste nun damit beginnen, das, was die Gemeinschaft von ihm wollte, auch selbst zu wollen.
Verblüffenderweise befanden sich Menschen, für die Tarnung und Heuchelei notwendige Mittel waren und die nie, außer alten Freunden gegenüber, offen ihre Meinung sagten, mit einem Mal im Einklang mit der allgemeinen, staatlich gebilligten Stimmung. »Wer nicht zur Armee einberufen worden war«, erinnerte sich Ginsburg, »wollte unverzüglich etwas tun – sich zum Dienst im Lazarett melden, sich als Übersetzer anbieten, einen Artikel für die Zeitung schreiben, und man hatte sogar den Eindruck, daß man dafür kein Honorar nehmen dürfe.« Die Behörden wussten nicht immer, was sie mit solchen Leuten anfangen sollten. Sie gerieten »in eine Maschinerie, die für solches psychologisches Material völlig ungeeignet war. Mit altgewohnter Brutalität und voller Mißtrauen … riß sie die Menschen aus einigen Bereichen heraus, in andere Bereiche wurden die Menschen zwangsweise gedrängt.« 8
Eine der vielen, die sich leidenschaftlich mit ihrem Land identifizierten, obwohl sie die Regierung verabscheuten, war Anna Achmatowa. 1889 geboren und aufgewachsen in Zarskoje Selo, einem Dorf südlich von Petersburg mit einer berühmten Zarenresidenz, hatte sie vor der Revolution als Autorin bittersüßer Liebesdichtung einen Kultstatus errungen, war sie durch Europa gereist und – hochgewachsen, schlank und adlernasig – von Modigliani skizziert worden. Die Schatten wurden länger in den späten zwanziger Jahren, als die Bolschewiki ihren Exmann, den Dichter Nikolaj Gumiljow, als einen der ersten prominenten Künstler, die dem Regime zum Opfer fielen, verhafteten und hinrichteten. In den dreißiger Jahren, während etliche ihrer Freunde in den Lagern verschwanden, wandte sie sich Vorlesungen und Übersetzungen zu, verfasste jedoch insgeheim weiterhin ihre eigene zunehmend tiefgründige und herzzerreißende Dichtung. Nachdem sie sich jedes neue Werk eingeprägt hatte, verbrannte sie das Manuskript. 1938 wurde ihr sechsundzwanzigjähriger Sohn zum dritten Mal in fünf Jahren verhaftet und in den Gulag geschickt, wo er auch bei Kriegsausbruch blieb. Trotz alledem nutzte sie nur zu gern die Gelegenheit, im Rundfunk einen patriotischen Aufruf an die »Frauen von Leningrad« zu richten. Außerdem wechselte sie sich mit anderen darin ab, an der Fontanka, vor dem Scheremetjew-Palast, Wache zu stehen. Dort wohnte sie in einer beengten und chaotischen Ménage-à-trois mit ihrem dritten Ex-Ehemann, dem Kunsthistoriker Nikolai Punin, und dessen neuer Frau und Tochter.
Eine weitere Autorin, die sich mit der Unterscheidung zwischen Land und Regime abmühte, war die einunddreißigjährige Dichterin Olga Berggolz. Heute ist sie aus der Mode gekommen, doch damals wurde sie berühmt durch Februartagebuch , einen Zyklus lebhafter und für jene Zeit freimütiger Gedichte, die im ersten Winter der Belagerung geschrieben und Anfang 1942 im Hörfunk gesendet wurden. Am Anfang des Krieges war sie noch unbekannt und arbeitete als Nachwuchskraft bei der städtischen Rundfunkanstalt. Die blonde, zarte Frau, mit einem sanften ovalen Gesicht und großen blauen Augen, kannte und bewunderte Achmatowa, war jedoch eine Generation jünger und während des idealistischen Jahrzehnts nach der Revolution als überzeugte Kommunistin herangewachsen. Ihre Ernüchterung setzte erst 1937 ein, als ihr ehemaliger Mann verhaftet (und später heimlich exekutiert) und sie selbst aus der Partei und dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Noch schlimmer erging es ihr achtzehn Monate später, als man sie in das Gefängnis hinter der Zentrale des Innenministeriums am Liteiny-Prospekt brachte und ihr dort in den Bauch trat, bis sie eine Fehlgeburt erlitt. Sieben Monate später wurde sie freigelassen; ihre Rettung verdankte sie ironischerweise dem Terror selbst, der gerade die oberen Ränge der Leningrader Sicherheitsdienste erreicht und ihre
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