Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Gefängniswärter das Leben gekostet hatte.
Bei Kriegsausbruch zwei Jahre später war Berggolz zum normalen Alltagsleben zurückgekehrt: zu einem trunkenen Flirt mit einem Kollegen im Rundfunkhaus, zu verschwommenen Gedanken über das Schreiben eines Romans, zu der Organisation einer illegalen Abtreibung für ihre Schwester. Ihr Tagebucheintrag vom 22. Juni lautet schlicht: »KRIEG!«, doch an jenem Tag schrieb sie auch ein neues, nicht für die Öffentlichkeit bestimmtes Gedicht, in dem sie versuchte, ihre bittere Enttäuschung über den unter Stalin praktizierten Kommunismus mit der Liebe zu ihrem Land in Einklang zu bringen:
Die bitteren Jahre der Bedrückung und des Bösen
Sind auch heute nicht vergessen;
Doch blitzartig leuchtete es in mir auf:
Nicht ich habe gelitten und gewartet, sondern du.
Ich habe nichts vergessen, nein,
Und auch die Toten und die Opfer
Werden aus ihren Gräbern steigen, wenn du rufst.
Wir alle werden uns erheben, nicht nur ich allein.
Ich liebe dich mit einer neuen Liebe,
Mit einer bittren hellen, verzeihenden Liebe –
Mein Mutterland, du trägst die Dornenkrone.
Ein dunkler Regenbogen spannt sich über deinem Haupt …
Ich liebe dich – nie kann es anders sein –
Und du und ich, wir sind vereint wie einst. 9
Die Männer, die sicherstellen sollten, dass der Zorn über die Nachricht vom deutschen Einmarsch nicht zu einem öffentlichen Chaos ausartete, waren Andrej Schdanow (der am 26. oder 27. Juni nach Leningrad zurückkehrte), Pjotr Popkow, der hitzköpfige Vorsitzende des Stadtsowjets, sowie (nach der Erklärung des Kriegsrechts) Generalleutnant Popow, Befehlshaber der Leningrader Garnison. Mit der eigentlichen Ausführung der von ihnen erteilten Befehle waren die Exekutivkomitees der Regional-, Stadt- und der fünfzehn Stadtbezirkssowjets betraut. Die gesamte Hierarchie orientierte sich an Moskau. Zum Beispiel war Popows Befehl Nr. 1 vom 27. Juni, in dem längere Arbeitszeiten, straffere Reisebeschränkungen und eine Ausgangssperre verfügt wurden, die wörtliche Abschrift der Order, die der Moskauer Garnisonskommandeur zwei Tage zuvor herausgegeben hatte. »Es ist schwierig, den Eindruck zu vermeiden«, meint ein Historiker, »dass er seinen Befehl aus der Prawda abgeschrieben hat.« 10
Dieser Apparat mit seinen sich überschneidenden Kompetenzen und seiner übergroßen Abhängigkeit vom fernen Kreml sowie von Schdanows Büro im Smolny, der finsteren ehemaligen Mädchenschule, in der die Leningrader Parteizentrale untergebracht war, blieb fast bis zur Einkesselung der Stadt bestehen. Durch die Schaffung eines Militärsowjets für die Leningrader Front am 24. August, die Schdanow und Frontbefehlshaber Marschall Kliment Woroschilow zusammenbrachte, wurde der Entscheidungsprozess zwar ein wenig verschlankt, doch das Problem der Überzentralisierung existierte weiter. Vier Tage zuvor hatte Schdanow versucht, den Berg seiner Verpflichtungen ein wenig abzubauen, indem er ein zweites Komitee – ohne seine eigene Mitwirkung – gründete, das den Bau von Befestigungen, die Waffenproduktion und die militärische Ausbildung für Zivilisten beaufsichtigen sollte. Stalin rief sogleich an, um sich zu beschweren, weil das neue Organ ohne seine Erlaubnis geschaffen worden war. Er verlangte, dass Schdanow und Woroschilow hinzugezogen würden. Damit besaß Schdanow zwei fast identische Komitees, und er löste das zweite zehn Tage später auf. Danach machte der dicke, asthmatische, kahlköpfige Funktionär, dessen Khakijacke mit Haarschuppen und Zigarettenasche übersät war, keinen weiteren Versuch, Aufgaben zu delegieren. Die Behauptung jener Zeit – dass kein Volt Strom ohne seine Erlaubnis zugeteilt wurde – dürfte fast buchstäblich der Wahrheit entsprochen haben. In der Masse vieler belangloser Archivdokumente, die seine Unterschrift tragen, ist ein Befehl typisch, mit dem eine Fabrik angewiesen wird, weitere neun Sauerstoffbehälter zu liefern. 11
In der Krise bestand die erste Reaktion dieser Männer darin, Verhaftungen vornehmen zu lassen. Um ein Uhr morgens am Freitag nach dem Einmarsch wurden Jelena Skrjabina und ihr Mann von der Türklingel geweckt. Jeder in der Sowjetunion wusste, was ein besonders langes nächtlichen Klingeln bedeutete: Es kündigte Personen mit einem Durchsuchungs- oder Haftbefehl an. Aber diesmal erwies es sich als Vorladung der Einberufungsbehörde. Vier Tage später erfuhr sie, dass eine Kollegin weniger Glück gehabt hatte: »Sie kamen in der
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