Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
gehorchen und gaben nach.
Ich unterrichtete L.S.T. über die Situation. Als Antwort kamen wütende Schreie und Drohungen. Denen, die sich weigerten zu tanzen, würde sie die Lebensmittelabschnitte für den nächsten Monat vorenthalten.
Die Vorstellung fand statt. Wir zeigten sogar den »sterbenden Schwan« und anderen Ballettunsinn. Petja, den ich so schminkte, dass er wie ein lebendiger Mensch aussah, »tanzte« zwei Nummern. Um ihn zu stärken, brachten ihm die Mädchen Brot und Kascha. Ich führte ihn auf die Bühne und versuchte, ihm nicht beim »Tanzen« zuzusehen. In der Pause sank er in meinen Armen zusammen und erbrach die Kascha, die er gegessen hatte.
Zu der Vorstellung erschien kein öffentliches Publikum, denn es gab in der Stadt keines mehr. Die beiden ersten Reihen waren mit Kunstadministratoren und Vertretern des Smolny und der Parteiorganisationen gefüllt. Während des Entreakts glänzte L.S.T., die ihr Haar rot gefärbt hatte und wie ein Modell gekleidet war; sie nahm Glückwünsche entgegen und bekundete unnatürlich laut ihre Liebe zu den Kindern, deren Leben sie den Winter hindurch gerettet habe.
Petja starb kurz darauf in einem Waisenhaus, und L.S.T. – eine gewisse Lidia Semjonowna Tager – stellte immer wieder neue Hüte und Pelzmäntel zur Schau, gekauft mit Lebensmitteln, die sie sich als Frau des Versorgungschefs der Leningrader Front verschaffen konnte. 30
Die seltsamste Geschichte einer Leningrader Institution ist vielleicht die des Zoos, einer kleinen, bezaubernden Anlage, die in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gegründet worden war und sich auf der Petrograder Seite hinter der Peter-und-Paul-Festung befand. Der Zoo hatte achtundfünfzig seiner wertvollsten Tiere nach Kasan evakuiert, bevor sich der Belagerungsring schloss. Andere Tiere waren durch die ersten Luftangriffe getötet worden. Statt die Schlachtung und den Verzehr der übrigen Tiere anzuordnen, teilte der Stadtsowjet dem Zoo eine Sonderration Heu und Wurzelgemüse zu, mit deren Hilfe das Personal, das außerordentliche Hingabe und hohen Einfallsreichtum bewies, fünfundachtzig Tiere im ersten Belagerungswinter am Leben erhielt. Man fand heraus, dass Füchse, Hermeline, Waschbären und Geier dazu gebracht werden konnten, eine »Gemüsemischung« aus Kleie, duranda und Kartoffeln zu fressen, wenn sie zuerst in etwas Blut oder Knochenbrühe eingeweicht wurde. Für wählerische Tiger, Eulen und Adler musste man das Gemisch erst in Kaninchen- oder Meerschweinchenhäute einnähen. Als der Zoo im folgenden Sommer wieder eröffnet wurde, wurden einige der überlebenden Tiere – Verotschka, der Rabengeier, Matrose, die Nilgai-Antilope, und Grischka, der Bär – zu Berühmtheiten. Der unumstrittene Star jedoch war das Nilpferdweibchen Krassawiza (Schönheit). Es handelte sich um das einzige Nilpferd in der Sowjetunion, und Krassawizas treue Pflegerin Jewdokia Daschina brachte sie durch den Winter, indem sie sie täglich mit vierzig Eimern voll warmen Wassers wusch, die mit der Hand von der Newa heraufgeschleppt werden mussten; außerdem rieb sie ihre sackartige graue Haut mit Kampferöl ein, damit sich keine Risse darin bildeten. 31 Ein Foto von 1943 zeigt Krassawiza und Daschina gemeinsam in einem schlammigen Gehege. Daschina hält ein Stück Gemüse in der Hand, das Nilpferd lässt das Kinn auf dem Boden ruhen und schielt mit einem kleinen, bewimperten Auge in die Kamera. Hinter dem massigen Tier sitzt eine Reihe von Kindern mit großen Knien und geschorenen Köpfen auf einem Zaun.
Solche Erfolge wirkten jedoch nur wie kleine Funken in einer alles einhüllenden Dunkelheit. Typischer für den Zustand der Stadt waren die Aktivitäten des Bestattungstrusts, der für die Leichenhallen und Friedhöfe zuständigen Behörde. 32 In den ersten Kriegsmonaten waren die rund 250 Mitarbeiter, zwölf Motorfahrzeuge und vierunddreißig Pferde relativ gut mit dem erhöhten Arbeitspensum fertig geworden. 3688 Beisetzungen – nicht viel mehr als in der Vorkriegszeit – fanden im Juli 1941 statt, 5090 im August, 7820 im September, 9355 im Oktober und 11401 im November. Zwei von acht geplanten Friedhöfen – in Erwartung zahlreicher Opfer durch die Luftangriffe – entstanden auf der falschen Seite der Front, 80 bis 85 Prozent der Toten wurden in den Leichenhallen von Angehörigen identifiziert und auf traditionelle Art begraben, während die Polizei die übrigen registrierte und fotografierte.
Seit Dezember brach das
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