Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
Vom Netzwerk:
von Hitze und Licht erfülltes Buch Kim (»eine himmlische Freude«) und Bulwer-Lyttons Kritik des Regency-Strafrechtssystems, Paul Clifford, an die Reihe. Im März las er Maupassant sowie Fenimore Coopers Der letzte Mohikaner und im April Joseph Conrads Spiel des Zufalls über ein junges Mädchen, das nach der Inhaftierung ihres Vaters von der Gesellschaft geächtet wird.
    Es ist ein Belagerungsklischee, dass das eingeschlossene Leningrad seiner Gefangenschaft durch die Lektüre von Büchern entgangen sei. (»Ich lese hauptsächlich Balzac und Stendhal«, soll ein Vorarbeiter der Kirow-Werke Alexander Fadejew, einem Auftragsschreiber der Partei, der im Frühjahr aus der Stadt »Bericht erstattete«, mitgeteilt haben.) Tatsächlich wird das Klischee durch die Lebenserinnerungen und Tagebücher bestätigt. Bei Kriegsbeginn las laut Ginsburg jeder, der »die Kraft zum Lesen hatte, … gierig Krieg und Frieden «, denn »Tolstoj hatte ein für allemal Gültiges zur Tapferkeit gesagt, über den Menschen, der hinter der allen gemeinsamen Sache eines Volkskrieges steht«. 20 Georgi Knjasew gab sich an einem der Tage, als seine Frau mit leeren Händen vom Lebensmittelverteilungspunkt der Akademie zurückkehrte, mit »Weltgeschichte«, der hethitischen Kultur und (untypischerweise) der französischen Décadence ab. 21 Am pechschwarzen Nachmittag des 14. Januar saß Vera Inber in Mantel und Handschuhen da und las Spektralanalyse des Chlorophylls , von dem großen Botaniker Kliment Timirjasew im neunzehnten Jahrhundert geschrieben, mit einer fast visionären Beschreibung von Pflanzen, die Sonnenenergie in irdisches Leben verwandeln. »Unmessbare Oberfläche von Blättern«, schrieb sie in ihrem Tagebuch. »Diese Worte lassen mich an einen wogenden Ozean aus grünem Laub und Lichtpartikeln denken, der durch das eisige Universum auf uns zufliegt.« 22 Ein Leutnant der Roten Armee, der die Verantwortung für Fesselballons hatte, las Jules Vernes Geheimnisvolle Insel . Daraus bezog und verwirklichte er den Gedanken, Wasserstoff für das Innere der Ballons zu verwenden und damit die Motoren zu betreiben, die für die Landung benötigt wurden. 23 Maria Maschkowa durchsuchte die Antiquariate nach Schätzen aus den hastig verkauften Bibliotheken von Evakuierten. Für sich selbst erwarb sie Herzen, Dostojewski und Die Pickwickier (»langweiliger, unsinniger Humor; ich bin verblüfft darüber, dass es veröffentlicht wird, sogar für Kinder«) und für ihren zehnjährigen Sohn Bücher von Jules Vernes, eine Pissarro-Biografie und Mayne Reids Wildwestabenteuer. Ein anderer Überlebender der Belagerung, der damals zehn Jahre alt war, erinnert sich an eine ähnlich eskapistische Leseliste: Puschkins Märchen, Twains Prinz und Bettelknabe , Darwins Die Fahrt der Beagle und Ernest Thompson Setons Zwei kleine Wilde über einen Stadtjungen, der sich in den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts dem Indianerleben in der Wildnis von Ontario anpasst.
    Die Leningrader lasen nicht nur, sie schrieben auch: Knjasew seine Kataloge, Inber Gedichte, Lichatschow eine historische Darstellung des mittelalterlichen Nowgorod und Olga Freudenberg einen Artikel über die Ursprünge der griechischen Epen, bis ihr Tintenfass beinahe zu einem violetten Klumpen gefror. Anna Ostroumowa-Lebedewa hörte erstaunlicherweise nie auf, die Schönheit zu würdigen, während sie im tiefsten Februar detailliert das Aussehen kahler, frostbedeckter Zweige vor dem Hintergrund des Himmels beschrieb. Sie versuchte, ihre zunehmend lethargischen halbwüchsigen Neffen Petja und Boba – »blass und dünn wie Papier« – abzulenken, indem sie ein Stillleben aus Büchern und einer Vase mit Herbstblättern arrangierte, das die beiden zeichnen sollten (Boba starb, Petja überlebte). Michail Steblin-Kamenski, ein Folklorist und Freund Boldyrews, beschäftigte sich mit griechischer Grammatik und wollte sich selbst einreden, dass ihm »eine einzigartige Gelegenheit geboten wurde, das Leben in seiner seltsamsten und distanziertesten Form zu beobachten«. Er hatte häufig versucht, sich das mittelalterliche Russland in einer Zeit der Hungersnot oder Pest auszumalen, und nun konnte er sich von der Realität überzeugen. Kein Wunder, dass der Chronist von einem Drachen schrieb, der über das Land hinwegfegte und Frauen und Kinder ergriff. 24 Der Archäologe Boris Pjotrowski, der im Keller der Eremitage wohnte, schrieb eine Geschichte von Urartu, dem verlorenen, im siebten Jahrhundert

Weitere Kostenlose Bücher