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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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blühenden Königreich an den Ufern des Sees Wan. »Schrecklich kalt«, kritzelte er an den Rand, »so kalt, dass es schwer ist zu schreiben.« 25 Im Zoo verzeichnete Nikolai Sokolow die Reaktionen verschiedener Arten auf Artilleriefeuer. Paviane und andere Affen wurden während des Beschusses hysterisch, gewöhnten sich jedoch rasch an Fesselballons und ließen nur »normale Neugier« gegenüber Suchscheinwerfern und Leuchtkugeln erkennen. Völlig unerschüttert war der Bär des Zoos, als ein Geschoss seinen Käfig zerbrach: Er »blieb friedlich liegen und sog an seiner Tatze«. Ähnliche Kaltblütigkeit bewies eine sibirische Bergziege, als eine Sprenggranate in ihrem Gehege landete, denn sie spähte mit ruhigem Interesse in den Krater. Der Emu blieb »allem gegenüber völlig teilnahmslos« – infolge »seines eingeschränkten Verstandes«, wie Sokolow dachte.
    Aber Bücher wurden nicht nur gelesen oder geschrieben, sondern dienten natürlich auch als Brennstoff. »Wir machen Feuer und verschaffen uns Wärme«, notierte Freudenberg, »heizen mit Memoiren und dem Fußboden ein, wobei Prosa mehr Hitze spendet als Lyrik, und Historisches bringt einen Teekessel zum Kochen.« 26 Boldyrew teilte seine Bücher, wie seine Möbel, in drei Kategorien: »behalten«, »verkaufen« und »verbrennen«. Stück um Stück warf Lichatschow die Protokolle der vorrevolutionären Duma in seine burschuika und verschonte nur das der letzten Sitzung, eine Rarität. Olga Gretschina verbrannte die Bücher ihres Onkels über römisches Recht. Wie sie feststellte, spendete Papier aus dem neunzehnten Jahrhundert mehr Hitze als das dünne sowjetische Material. Eine andere Familie begann mit Nachschlagewerken und technischen Handbüchern, ging dann zu Zeitschriftenbänden, deutschen Klassikern, Shakespeare und schließlich zu vielbändigen blauen und goldgeprägten Puschkin- und Tolstoi-Ausgaben über. 27
    Ein anderes Belagerungsklischee, das durch die Tagebücher untermauert wird, bezieht sich auf die Rolle des Rundfunks und die emotionale Stärkung, welche die Leningrader aus ihm bezogen. Kofferradios waren bei Kriegsausbruch beschlagnahmt worden, weshalb man festverdrahtete Lautsprecher benutzte, von denen seit den zwanziger Jahren mehr als 400000 in Wohnungen und an öffentlichen Orten angebracht worden waren. 2 Einquartiert im »Rundfunkhaus« an der Ecke Italjanskaja- und Malaja-Sadowaja-Straße, setzte der städtische Sender während des gesamten Todeswinters seine Arbeit trotz Stromausfällen und Geschossschäden am Übertragungsnetz fort. Geschichten über seine belebende Wirkung sind Legion: Die Dichterin Olga Berggolz brach auf der Straße zusammen und rappelte sich beim Klang ihrer eigenen Stimme auf, die ihre eigene Dichtung vortrug; ein Kampfpilot schaffte es, »mit nur einer Tragfläche« heimzufliegen, als er hörte, wie Klawdia Schulschenko das Lied »Der kleine blaue Schal« sang; eine Hausfrau stolperte den Bürgersteig entlang und wurde von Lautsprecher zu Lautsprecher wie von einer Menschenkette »weitergegeben«. Ein (übertrieben stalinistisches) Programm für Teenager mit dem Titel »Brief an meine Freundin in Leningrad«, das am 7. Dezember gesendet wurde, entzückte die sechzehnjährige Klara Rachman. »Was für ein wundervoller Brief!«, vertraute sie ihrem Tagebuch an. »Er gibt meine Gedanken ganz genau wieder. Ich werde alles aufschreiben, woran ich mich erinnere.« 28 Der Autor Lew Uspenski, der in einer Bahnstation südlich von Ladoga eine spätabendliche Zigarette rauchte, wurde durch die Worte »Hier spricht Leningrad« aufgeschreckt, die aus dem Nebel über seinem Kopf hervordrangen. Eine Verzögerung zwischen den Lautsprechern, die an einer Reihe von Telegrafenmasten angebracht waren, ließ die Worte einander überlappen, bevor sie in der Ferne verhallten. Es klang so, als sprächen zahlreiche Riesen, die die deutschen »Dummköpfe« sanft ermahnten, ihre Pläne aufzugeben und heimzukehren, bevor sie Schaden nahmen. 29
    Die Sowinform-Nachrichten, die täglich um 11 Uhr und 23 Uhr gesendet wurden, hatten die meisten Zuhörer. Olga Freudenberg und ihre Mutter, die sich gerade rechtzeitig zur Januaroffensive der Roten Armee ein Rundfunkgerät beschafft hatten, lauschten mit Tränen in den Augen jedem Wort des Sprechers. Sie wussten, dass sie sich auf die Nachrichten nicht verlassen konnten, »doch man hörte trotzdem zu und schenkte ihnen Glauben«. 30 Aufrichtigen Zuspruch fanden Berggolz’ Lesungen ihrer

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