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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Familie am Liteiny-Prospekt.) Außerdem sammelten Leningrader Gemeinden erhebliche Summen für die Verteidigung: bis Ende 1941 über zwei Millionen Rubel, mit denen eine Dmitri-Donskoi-Panzerkolonne und ein Alexander-Newski-Luftgeschwader finanziert wurden. Einen ähnlichen Beitrag leistete die Chor-Synagoge, das einzige verbliebene Gotteshaus für die rund 200000 Juden der Stadt.
    Dagegen wurden unabhängige Gemeinden weiterhin gnadenlos verfolgt. Dafür typisch war eine kleine unterirdische Gruppe, die man im Sommer 1942 entdeckte und beseitigte. Sie wurde laut einem NKWD-Fallbericht von einem Sechzigjährigen, der als Archimandrit Klawdi bekannt war, angeführt. Er hatte bereits wegen »konterrevolutionärer Tätigkeit« im Gefängnis gesessen und wohnte nun illegal in Leningrad. Zu seinen bejahrten, zumeist erwerbslosen Anhängern zählten »Kulaken«, frühere Nonnen, »Mönchselemente« und eine Schwester aus dem Lenin-Krankenhaus. Ihre Verbrechen waren laut Klawdis Geständnis unter anderem folgende: »der illegale Versuch, Gläubige anzuwerben«, »die Äußerung von Lob für die vorrevolutionäre Ordnung und den damaligen Lebensstandard« und »öffentliche Missbilligung der Methoden der Sowjetmacht«. 34 Wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist, aber wahrscheinlich stieß Klawdi das Gleiche zu wie Berggolz’ Vater, einem Arzt, der Anfang 1942 nach Sibirien deportiert wurde, weil er sich geweigert hatte, Pater Wjatscheslaw zu denunzieren, einen alten Freund, mit dem er Karten zu spielen pflegte. 35
    Wie viele Leningrader während des ersten Belagerungswinters Gottesdienste besuchten, ist schwer zu ermitteln. Obwohl einer der Memoirenautoren die Gottesdienste in der Wladimir-Kathedrale rührend schildert – die Chormitglieder in Schals gehüllt und mit Filzstiefeln an den Füßen, das Öl in den Ikonenlämpchen eingefroren, die Feier des Abendmahls, der Rote-Bete-Saft anstelle von Wein –, bleiben die Tagebuchschreiber stumm, was Religiöses angeht, selbst wenn sie sich leichtsinnig offen über andere Themen äußern. Vielleicht war die überfüllte Kathedrale eine freundliche Illusion, vielleicht zog sie erst seit dem Frühling Menschenmengen an, oder vielleicht war es überwiegend nur die Intelligenzija, die Tagebücher führte, während die Arbeiter in die Kirche gingen. Gebildeten Leningradern mag es auch schwerer gefallen sein, sich ihren Glauben zu bewahren. Berggolz – von jüdischer Herkunft und in ihrer Jugend eine idealistische Kommunistin – betrachtete die Belagerung als Kollektivstrafe für die Lügen und die moralische Feigheit der Säuberungsjahre, dafür, dass man die Pervertierung der Revolution zugelassen hatte:
    Was für unglückliche Menschen wir sind! Worauf haben wir uns eingelassen? Auf welch eine böse Sackgasse und welches Delirium? Oh, was für eine Schwäche und was für ein Entsetzen! Ich kann nichts tun, nichts. Am ehrlichsten wäre es gewesen, mir das Leben zu nehmen. Ich habe so oft gelogen, so viele Fehler begangen, dass es nicht getilgt oder richtiggestellt werden kann … Wir müssen die Deutschen abwehren, den Faschismus zerstören, den Krieg beenden. Und dann müssen wir alles an uns selbst ändern … (Gerade hatte Kolka [ihr Mann] einen [epileptischen] Anfall – ich musste ihm den Mund zuhalten, damit er die Kinder im Nachbarzimmer nicht verängstigte. Er leistete schrecklichen Widerstand.) Warum leben wir? O Gott, warum leben wir? Haben wir wirklich nicht genug gelitten? Nichts Besseres wird uns je zuteil werden.
    Diese Stimmung war durch einen Freund auf sie übertragen worden, einen traumatisierten Überlebenden des Flottenrückzugs aus Tallinn, der sie früher am Tag besucht und zusammenhanglos gemurmelt hatte: »Seit zwanzig Jahren sind wir im Unrecht, und nun zahlen wir dafür.« 36
    Andere kehrten unwillkürlich zum Glauben zurück, während sich ihre Angst und ihr Leid verstärkten. Parteimitglieder flüsterten Gebete und bekreuzigten sich in den Luftschutzkellern. Georgi Knjasew, der selbsternannte Anbeter von Turgenew, Tolstoi und Tschechow, grübelte in den Achtzehnstunden-Nächten des tiefsten Januars über die Stabilität der Lampenhalterung an der Decke – er hatte beschlossen, sich aufzuhängen, wenn seine Frau vor ihm starb – und über sein »Lieblingsthema …, über Christus, diesen erstaunlichen Lehrer der Liebe und Barmherzigkeit im fernen Galiläa«. 37 Ein Maler, der neben seiner Frau starb, machte Zeichnungen eines Feuerengels, nämlich

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