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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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eigenen Verse, besonders ihres »Februartagebuchs«, eines langen Gedichts, das im Februar 1942 zur Feier des Tages der Roten Armee in Auftrag gegeben worden war. Trotz der Zensur gelang es ihr, Patriotismus mit einem ungewöhnlichen Grad an Realismus und persönlichen Gefühlen zu verbinden, wodurch sie der öffentlichen Stimmung völlig gerecht wurde. Die Strophen, erinnert sich ein Überlebender, waren »so einfach, dass sie sich jedem einprägten. Man ging die Straße entlang und murmelte die Zeilen vor sich hin … Als ich auf das Bibliotheksdach klettern und dort während des Beschusses stehen musste, war es mir irgendwie eine große Hilfe, das Gedicht auswendig zu kennen.« Ein anderer bezeichnet die Strophen als »herrlich … Sie weckten uns aus unserem animalischen Brüten über das Essen auf.« 31
    Zu den populären Programmen gehörten auch Lagerfeuer , ein fantasievolles Magazin für Kinder, das noch lange nach dem Krieg fortgesetzt wurde – und, seit Frühjahr 1942, Briefe an die Front und von der Front , das Leningradern ermöglichte, einander (aufmunternde) persönliche Botschaften zu schicken. Das Rundfunkhaus wandte sich auch an die Belagerer der Stadt. Geleitet von den Brüdern Ernst und Fritz Fuchs, emigrierten österreichischen Kommunisten, sendete der deutschsprachige Dienst defätistische Interviews mit Kriegsgefangenen und (gefälschte) »Briefe aus der Heimat«, die angeblich in den Taschen toter Soldaten gefunden worden waren. In einem dieser Briefe wurde die Bombardierung von Berlin beschrieben, und einem anderen, verfasst von Berggolz, schwärmte jemand vom Weihnachtsfest in Bayern: »Erinnerst du dich an den Duft der Weihnachtskekse? Gewürze, Rosinen, Vanille? An die Wärme und das Knistern der Weihnachtskerzen?« 32
    In den Pausen zwischen den Programmen, die im Dezember und Januar auf ein paar Stunden pro Tag zusammenschrumpften, strahlte der Sender das ruhige Ticken (mit fünfzig Schlägen pro Minute) eines Metronoms aus. Dies war für Haushalte, deren Apparate noch funktionierten, das stetige Pochen des Herzens von Leningrad. Was genau das Rundfunkhaus sendete, spielte kaum eine Rolle; entscheidend war, dass der Organismus noch lebte und dass die Kommunikation aufrechterhalten wurde. Iwan Schilinski gehörte zu den vielen Tagebuchschreibern, die, selbst wenn sich ihre Einträge auf eine nackte Liste der Essensaufnahme und der Todesfälle in der Nachbarschaft verkürzten, immer auch verzeichneten, ob der Radioempfang noch vorhanden war.
    Viel schwieriger ist es, zu ermessen, welchen Trost die Leningrader in den Monaten des Massentodes aus ihrem Glauben bezogen. 33 Nachdem Stalin Tausende von Kirchen und Klöstern geschlossen oder abgerissen sowie ihre Mönche, Nonnen und Priester hingerichtet, inhaftiert oder ins Exil geschickt hatte, war die organisierte Religion in den späten dreißiger Jahren korrumpiert oder in den Untergrund getrieben worden. Bei Kriegsbeginn waren in der gesamten Leningrader Diözese nur noch einundzwanzig Kirchen tätig; die übrigen hatte man demoliert oder zu Lagerhäusern, Garagen, Kinos, Planetarien oder »Religionsmuseen« umgebaut. Die Auferstehungskirche – ein mehrfarbiger neobyzantinischer Bau, gefüllt mit leuchtenden Mosaiken, der heute zu einer der Haupttouristenattraktionen von St. Petersburg geworden ist –, wurde ironischerweise nur durch den Kriegsausbruch vor der Zerstörung gerettet.
    Nach dem deutschen Einmarsch vollzog Stalin eine rasche Kehrtwendung und räumte der orthodoxen Kirche (jedoch nicht der katholischen und lutherischen Kirche und den Baptisten) eine (eng umrissene) Rolle im öffentlichen Leben dafür ein, dass sie die Kriegsbemühungen unterstützte. Manche Kirchen durften wieder eröffnet werden, die Zeitung Atheist wurde umbenannt und dann geschlossen, und der Leningrader Metropolit Alexej durfte einen patriotischen Appell an die Nation richten. Darin berief er sich auf die mittelalterlichen russischen Krieger und Heiligen Dmitri Donskoi und Alexander Newski, erwähnte Stalin jedoch kein einziges Mal. Man gestattete Geistlichen, Begräbnisse (wie für Lichatschows Vater) abzuhalten und Wohnungen zur Verabreichung der Sterbesakramente aufzusuchen. Krypten wurden als Luftschutzkeller und Verteilungsstätten für Öl, Feuerholz, heißes Wasser und Kleidung benutzt (als Kleinkind verbrachte der Dichter Joseph Brodsky die Zeit der Luftangriffe im martialischem Glanz der Verklärungskathedrale, um die Ecke von der Wohnung seiner

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