Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
am Leben erhalten wurde (niemand durfte vom Tod sprechen, und seine Schwester und er mussten täglich zehn Minuten draußen im Schnee stehen, damit sie Licht und Luft bekamen), hörte, wie sich das Paar im Nachbarzimmer zuerst stritt, bevor beide handgreiflich wurden und dann ein Hämmern an der Wand ertönte, als die Frau ihr Baby erschlug. 18
Ein perfekter Überlebender war der Iranologe Alexander Boldyrew. Gut aussehend, egoistisch und von beißenden Humor, war er den Säuberungen von 1936/37 entgangen, indem er sich lange mit Magengeschwüren im Krankenhaus aufhielt oder Forschungsreisen in ferne Teile Zentralasiens unternahm. Bei Kriegsausbruch entzog er sich der Einberufung mit Hilfe seiner Geliebten, einer Kollegin in der Eremitage, die ihren schwer geprüften Ehemann veranlasste, bei Museumsdirektor Jossif Orbeli Fürsprache für Boldyrew einzulegen. Obwohl dieser kein Parteimitglied war, nutzte er während der Belagerung unermüdlich seine Beziehungen und ließ sich nicht nur in der Eremitage, sondern auch im Wissenschaftlergebäude und im Orientalischen Institut registrieren. So konnte er in jedem täglich ein »Mittagessen« zu sich nehmen. Von der Eremitage verschaffte er sich ebenfalls eine Arbeiterlebensmittelkarte und erstaunlicherweise 1417 Rubel als Entschädigung für seinen verlorenen Sommerurlaub. Außerdem hielt er Vorträge – über »Peters Flotte«, »Die Literatur der Brudervölker Zentralasiens« und »Das heutige Afghanistan« – vor Seeleuten der vom Eis gefangenen Leningrader Schiffe. Manchmal musste er ohne Entgelt einen langen Spaziergang durch die Stadt machen, um diese Aufträge zu erfüllen, doch gewöhnlich brachten sie ihm eine Mahlzeit und ein paar Sternchen-Zigaretten ein. Sein Belagerungstagebuch erscheint wie eine sich dauernd ändernde Liste von Beamten, bei denen er vorstellig werden, von Schulden, die er einfordern, und von Tauschgeschäften, die er machen musste. Er selbst vergleicht all das damit, »in einem Sumpf von einem Grasbüschel zum anderen zu springen«. 19 Zudem verlor er weder die Hoffnung – die Belagerung werde bald aufhören; England werde bald eine zweite Front eröffnen – noch seinen Humor. »Dauernd«, schrieb er am 10. Februar, »ob ich sitze, stehe oder liege, werde ich an meine extreme Abmagerung erinnert. Besonders auffällig ist das Verschwinden meines Gesäßes, des einzigen wirklich charakteristischen Aspekts meiner Person, auf den ich sehr stolz war. Nun habe ich überhaupt keinen Hintern mehr; mein Becken und meine Hüftknochen klappern gegen den Stuhl.«
Obwohl seine Familie alles andere als harmonisch war (seine Frau zankte sich unablässig mit seiner Mutter und Boldyrew seinerseits mit seiner Frau), agierten sie weiterhin als Team. Boldyrew brachte »Hefesuppe« und »Gelee« aus seinen verschiedenen Kantinen heim, seine Frau spendete Blut (wofür zusätzliche Rationen verteilt wurden), und seine Mutter stellte sich nach Lebensmitteln an. Auch hatten sie das Glück, mit zahlreichen ererbten Wertsachen handeln zu können. Neben Kleidung und Schuhen verkauften sie im Lauf des Winters drei Uhren – Boldyrews eigene (»Oh, wie schwer es ist, sich von ihr zu trennen!«), die seines toten Vaters und die Longines-Uhr seiner Frau – für zehn Kilo Mehl und fünf Kilo Rinderfett, eine Zigarettenspitze aus Bernstein (für 200 Gramm Brot), zwei Bestecke mit jeweils acht silbernen Dessertlöffeln (für 2 Kilo Brot und 700 Gramm Fleisch), ein silbernes Sahnekännchen und eine silberne Zuckerschüssel, Porzellanteetassen (an das alte Fabergé-Geschäft in der Morskaja für 670 Rubel, womit sie einen Liter Sonnenblumenöl erstanden) und den Ehering seiner Mutter. Diese Verbindung aus Hartnäckigkeit, Kooperation und Glück rettete Boldyrew, seine Frau und Tochter, nicht jedoch seinen Schwager, seinen Onkel und seine Mutter, die alle zwischen Dezember und Mai verhungerten.
Abends lag Boldyrew auf einem Sofa neben dem Ofen, der mit Möbeln und Bilderrahmen beheizt wurde, und las Romane. Am 19. Dezember beendete er Große Erwartungen . »Ein unbeschreibliches Vergnügen – die einzigen Teile, die mir auf die Nerven gehen, sind die wiederholten, ach so englischen Essenspassagen.« Am folgenden Tag begann er Priestleys Die guten Gefährten – »Bis jetzt wunderbar. Sein Hauptreiz ist England, das heutige England« –, das er »mit großem Bedauern« abschloss, denn »es war genau das Buch, das ich mir gewünscht hatte«. Als Nächstes kamen Kiplings
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