Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Christi – sein Schädel ähnelte denen der Verhungernden –, und der Heiligen Jungfrau, die ihren Schutzschleier über den schachtartigen Hof eines verdunkelten Wohnblocks legte. 38 Altgläubige und Siebenten-Tags-Adventisten hielten, wie immer seit 1938, heimliche Gottesdienste in ihren Wohnungen ab. Die Mutter einer solchen Familie (ihr Mann, ein Priester, war während des Terrors von 1936/37 inhaftiert worden), ließ ihre sechs Kinder stundenlang auf dem Fußboden knien und beten. Als sie abgemagert waren, durften sie auf Kissen knien (zwei der sechs starben). 39 Muslime und Buddhisten mussten ihre Religion ebenfalls heimlich ausüben. Dabei dienten Tausende von ihnen an der Leningrader Front, und die Stadt besaß sowohl eine Moschee als auch einen prächtigen buddhistischen Tempel, der unter Nikolaus II. errichtet worden war (außerdem hatte man den Fesselballon, der während des Krieges als Antennenmast diente, an ihm vertäut).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass religiöser Glaube während der Belagerung eine private, riskante Quelle des Trostes blieb. Stalins Lockerung der Vorschriften war opportunistisch und befristet, was die Leningrader wussten. Ein zehnjähriges Mädchen, das von einem der achtundneunzig neuen, zwischen Januar und März 1942 eröffneten Waisenhäuser aufgenommen worden war, erwachte eines Nachts und erblickte ihre Klassenlehrerin, die mit gebeugtem Kopf am Fenster des Schlafsaals kniete. Die Lehrerin erklärte, sie bete für ihren Sohn, der an der Front verschollen sei. Sie flehte das Mädchen an, niemandem zu erzählen, was sie gesehen habe. 40
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Swjasy
Ein schwer zu übersetzendes Wort bedeutete in der Sowjetunion sehr viel: swjasy oder »Verbindungen«. Dies meint eine Kombination aus Drahtzieherei, Austausch von Gefälligkeiten und Bestechung. Durch swjasy konnten die Bürger das Staatsmonopol für Waren und Arbeitsplätze umgehen und sich alles Mögliche verschaffen: einen Posten, einen Telefonanschluss, einen Platz an der Universität oder auch nur einen Eimer voll Kartoffeln oder ein neues Paar Schuhe. In Friedenszeiten vermochte man seinen Lebensstandard durch die kluge Nutzung von swjasy zu erhöhen, doch während der Belagerung markierten sie nicht weniger als den Unterschied zwischen Leben und Tod.
Während die erste Verteidigungslinie des typischen Leningraders gegen den Hunger aus der unmittelbaren Familie bestand, setzte sich die zweite aus dem Freundesnetz zusammen. Besonders unter den eng miteinander verknüpften Familien der Intelligenzija konnten Freundschaften – beruhend auf Generationen von Verbindungen durch Ehe, Ausbildung und Beruf sowie auf der gemeinsamen Erfahrung von Angst und Verarmung – umfassend und erstaunlich stark sein. Nicht ungewöhnlich war die Situation der verwitweten, kinderlosen Anna Ostroumowa-Lebedewa, die kleine, aber ermutigende Lebensmittelgeschenke von alten Kollegen ihres verstorbenen Mannes im Chemischen Forschungsinstitut erhielt. »Mein Freund Pjotr Jewgenjewitsch kam heute zu Besuch«, schrieb sie am Neujahrstag 1942. »Er brachte eine Handvoll Haferflocken für kissel [ein verdicktes Fruchtsaftgetränk] mit, und Iwan Jemeljanowitsch hatte drei Sprotten bei sich.« Die beiden erschienen ein paar Wochen später erneut, diesmal mit 200 Gramm Brot, getrockneten Zwiebeln, Senfpulver, »einem winzigen Stück Fleisch, vier getrockneten weißen Pilzen und vier gefrorenen Kartoffeln (die ersten, die wir seit Herbst gesehen haben). Dies ist ein unbezahlbarer Schatz, und ich war überaus dankbar, zumal wir in der letzten Woche nichts als Seetang gegessen haben … Eine Feier!« 1
Ähnlich loyal verhielten sich der pensionierte Straßenbahnangestellte Iwan Schilinski und seine Frau Olga, denn sie kümmerten sich um einen alten Freund, dessen Familie in die Evakuierung gereist war. Sie luden ihn zur Neujahrsfeier ein, um Wein und duranda mit ihm zu teilen – vorher säuberten sie sorgfältig ihr Zimmer und ihre Kleidung und gaben ihm bei seiner Ankunft die Möglichkeit, sich zu waschen und zu rasieren –, sie nahmen ihn bei sich auf, als seine Unterkunft durch Artilleriebeschuss unbewohnbar wurde, und tauschten schließlich Brot ein, damit er ein ansehnliches Grab bekam. Wäre Olga nicht verhungert und Iwan nicht vom NKWD verhaftet worden, hätten sie seine Kinder adoptiert. Auch kleinere Akte der Großzügigkeit konnten viel bewirken. Eine Überlebende der Belagerung erinnert sich an das heranwachsende Mädchen von nebenan,
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