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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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die Ausbreitung von Infektionskrankheiten zu verhindern. So musste sich ein einziger Arzt in einem überfüllten Dorf um 5000 Menschen kümmern, und überall war die medizinische Versorgung »schwach«. Zusammenfassend stand in dem Bericht: »Bezirksorganisationen missachten die Bedingungen an den Evakuierungspunkten und versuchen, sich ihrer Pflicht zur Unterstützung der Aussiedlerbevölkerung zu entziehen. Wir halten es für notwendig, dass die Bezirksparteikomitees und die Sowjetexekutivkomitees angewiesen werden, die Evakuierungsstellen in ihren Gegenden in Ordnung zu bringen sowie den Kultur- und Lebensstandard der Evakuierten zu verbessern.« 38
    Als das NKWD zwei Monate später einen neuen Bericht vorlegte, starben Flüchtlinge bereits in großer Zahl. In Wsewoloschsk, einem Evakuierungspunkt am Nordostrand der Stadt, waren 130 Leichen aus Wohnungen und Heimen eingesammelt worden. Weitere 170 wurden im Krankenhaus gefunden, ungefähr hundert lagen unbeerdigt auf dem Friedhof und sechs auf den Straßen. Der eigene Beitrag des NKWD zur Verbesserung des »Kultur- und Lebensstandards« der Flüchtlinge war typisch: Elf Bauern wurden wegen »antisowjetischer Standpunkte« verhaftet; das gleiche Schicksal traf einen zwölften, weil er Katzen und Hunde für Verpflegungszwecke schlachtete. Andere bezichtigte man, »einen organisierten Aufstand angezettelt zu haben«. In Wirklichkeit hatten sie versucht, Repräsentanten zu wählen, die nach Moskau reisen und Stalin um Hilfe bitten sollten. 39

 
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    »Robinson Crusoe war glücklich dran«
    Am 22. Januar 1942 tat das Moskauer Staatliche Verteidigungskomitee endlich das, was es sechs Monate vorher hätte tun müssen, und ordnete die Massenevakuierung Leningrads an. Da die Eisstraße mehrere Wochen zuvor bis zu der erforderlichen Festigkeit gefroren war, sollte die Aktion mit Lastwagen über den Ladogasee hinweg vollzogen werden. Alexej Kossygin, der stellvertretende Vorsitzende des Rats der Volkskommissare (und später Breschnews zweiter Mann), übernahm die Leitung des Evakuierungsprogramms, das 500000 Zivilisten – mit Vorrang für Frauen, Kinder und alte Menschen – einbeziehen sollte.
    Obwohl die Evakuierung obligatorisch war, versuchte eine erhebliche Minderheit von Leningradern, ihr auszuweichen. Sie fürchteten, dass sie die Reise nicht überleben würden, sie wollten ihre Verwandten nicht zurücklassen oder argwöhnten (oftmals zu Recht), dass ihre Wohnungen für immer verloren seien, wenn sie auszögen. Einer dieser Zauderer war Alexander Boldyrew, der von seinen Vorgesetzten bedrängt wurde, zusammen mit dem überlebenden Eremitage-Personal nach Kislowodsk im Kaukasus aufzubrechen: »Mit Dystrophie abzureisen, in der Kälte … die Wohnung zu verlassen, Mama und alles, wenn wir hier vielleicht kurz vor dem Erfolg stehen. Das kann ich nicht … Anscheinend sind Mutter, Schwester und Bruder Schtakelberg sämtlich noch vor der Abfahrt gestorben, ebenso wie der Buchhalter Ponomarjow. Ihre Leichen wurden aus den Fenstern des Evakuierungszugs auf den Finnischen Bahnhof geworfen.« 1 Vera Inber, unbewusst dem Beispiel der britischen Königin Elisabeth während der Bombenangriffe auf London folgend, erklärte, ihr Mann bleibe bei seinen Studenten und sie bleibe bei ihrem Mann. 2 Olga Gretschina war schlicht der Meinung, dass die Reise einer »Desertion« gleichgekommen wäre. Eine mit Georgi Knjasew befreundete Studentin wollte ebenfalls in der Stadt bleiben, da sie nur noch drei Prüfungen abzulegen brauchte, um ihr Studium zu beenden, und da es ihr widerstrebte, ihre Mutter und ihre Tanten im Stich zu lassen. 3
    Keine Wahl hatten Tausende von Volksdeutschen und finnischen Bauern aus den belagerten Dörfern um Leningrad, deren Deportierung Berija im vorherigen Sommer zu spät angeordnet hatte. Ihre Evakuierung wurde mit der gewohnten Brutalität vom Militär – unter der Leitung von »Troikas« aus örtlichen Partei-, Sowjet- und NKWD-Vertretern – durchgeführt. Man legte für jeden Bezirk Quoten fest, ließ den Betreffenden nur ein paar Stunden Zeit zum Packen und beschlagnahmte, einhergehend mit Brandstiftung und Plünderei, ihr Vieh und ihre Lebensmittelvorräte. 4 Dadurch verloren die Gebiete um Leningrad fast alle Landarbeiter – mit vorhersehbaren Konsequenzen für die Lebensmittelproduktion im Sommer 1942. Zum Beispiel wurden im Gebiet des Kessels von Oranienbaum zwölf Kolchosen durch die Deportierung von 4775 Bauern völlig geleert, und acht weitere

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