Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
verfügten nur noch über wenige Familien. 5 Manche derjenigen, die deportiert werden sollten, hatten Angst, »auf der Bucht unters Eis gestoßen zu werden«, wie ein Gerücht lautete, doch in anderen Fällen flehten Volksrussen sogar darum, ebenfalls abreisen zu dürfen. In dem Oranienbaum-Bericht ist von mehreren Offizieren der Roten Armee die Rede, die versucht hätten, Finnen von der Deportierung auszunehmen; dies sei ein beunruhigendes Anzeichen dafür, dass »einige Armeegenossen derart mit der Ortsbevölkerung verschmolzen sind, dass sie sich mit lokalen Interessen identifizieren und die des Staates vergessen«. Vom Kriegsbeginn bis zum 1. Oktober 1942 deportierte man gewaltsam insgesamt 128748 Menschen, von denen knapp die Hälfte Volksdeutsche oder -finnen und die übrigen »kriminelle« oder »gesellschaftlich fremde Elemente« waren. 6
Die große Mehrheit der Leningrader wollte jedoch unbedingt die Stadt verlassen. Rasende Menschenmengen bildeten sich vor den Evakuierungsämtern, und Vorgesetzte, die sich nicht anzustellen brauchten, stießen auf heftigen Groll. »Warum schicken sie all die Fabriken, die Institute und die besten Kader weg?«, klagte jemand. »Anscheinend sind sie doch nicht so sicher, dass die Deutschen Leningrad nicht einnehmen werden.« Ein anderer meinte, die Wehrmacht plane einen Großangriff für das Frühjahr: »Die Oberen achten auf ihren eigenen Vorteil und verschwinden als Erste, aber wir können zurückgelassen werden.« 7 Sogar für diejenigen, die in das Programm einbezogen wurden, waren die Begleitumstände erschreckend. Evakuierungskandidaten mussten nicht nur als reisefähig und frei von Infektionskrankheiten diagnostiziert werden, sondern auch ein Amt nach dem anderen aufsuchen, um sich Stempel und Dokumente zu besorgen; dann galt es, seine Habseligkeiten zu verkaufen und Reiseproviant zu erwerben, die zulässigen sechzig Pfund Gepäck pro Person zu packen und über die Liteiny-Brücke zum Finnischen Bahnhof zu schleppen – kaum zu bewältigende Aufgaben für die Erschöpften und Abgezehrten. Dass die Anstrengung viele das Leben kostete, ist an der Zahl der Todesfälle am medizinischen Kontrollpunkt des Finnischen Bahnhofs abzulesen: Von den 2564 Personen, die dort zwischen Anfang Februar und dem 13. April untersucht wurden, starben 230 an Ort und Stelle. 8
Viele sahen sich vor der Evakuierung einem entsetzlichen Dilemma gegenüber: Sollte man zurückbleiben und versuchen, das Leben eines Angehörigen zu retten, der zum Reisen zu schwach war, oder sollte man die Schwachen aufgeben und die Kräftigen retten? Das, was Experten, die sich mit Hungersnöten beschäftigt haben, als »erzwungene Preisgabe« bezeichnen, war sehr verbreitet. Dmitri Lichatschow führt drei Beispiele aus dem Kreis seiner Freunde an, insbesondere das des Dostojewski-Forschers Wassili Komarowitsch. Am Tag vor ihrer geplanten Abreise zerrten ihn seine Frau und Tochter mit dem Schlitten zum stazionar des Schriftstellerverbands. Bei ihrer Ankunft entdeckten sie, dass die Klinik erst mehrere Tage später geöffnet werden würde, doch sie baten die diensthabende Ärztin, ihn aufzunehmen. Die Frau weigerte sich, aber die beiden ließen ihn trotzdem in einer Kellergarderobe zurück. Komarowitsch wurde von der Ärztin ernährt und blieb gerade lange genug am Leben, um seine Habilitationsschrift abzuschließen. Die Arbeit wurde nach dem Krieg veröffentlicht und macht einen ganz normalen Eindruck, abgesehen davon, dass die Fußnoten nach den Kirchenfeiertagen datiert sind. Die zweite von Lichatschow genannte Familie ließ eine Tochter zurück, die im Krankenhaus starb; die dritte trennte sich auf dem Finnischen Bahnhof von ihrer alten Mutter, ohne sie vom Schlitten loszubinden, nachdem sie für reiseuntauglich befunden worden war. 9
Jelena Skrjabina wurde eine ähnliche Entscheidung durch einen vorzeitigen Todesfall erspart. »Gerüchte über eine verstärkte Evakuierung nehmen immer mehr zu«, schrieb sie am 29. Januar. »Mein Onkel kann diese Gespräche nicht ertragen, er ist so geschwächt, daß er keine Hoffnung mehr hat, am Leben zu bleiben, auch wenn man ihn aus Leningrad fortbrächte … Hier, umsorgt von seiner Frau, kann er sich noch halten.« Er starb am folgenden Tag:
Die Tante, die ihn ihr Leben lang vergöttert hat, beherrschte sich, wie sich jetzt alle beherrschen – sie weinte nicht einmal. Um sechs Uhr abends kam Ljudmila von der Arbeit. Ich öffnete ihr die Tür und sagte ihr, daß ihr
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