Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Lebensmittel, wattierte Jacken und Hosen eingetauscht und einen Schlitten mit allem Nötigen und leicht verkäuflichen Silberbestecken beladen, war dann jedoch unfähig gewesen, ihren Sohn hinunterzutragen. Mutter und Tochter ließen ihn auf dem Sofa liegen und brachen, den Schlitten hinter sich herziehend, zum Bahnhof auf. »Ja, und als wir zu Fuß den Newski entlang zum Moskauer Bahnhof gingen, wollte Mutter immer zurück und ihn holen: ›Jura ist noch dort! Jura ist noch dort!‹ Ich weinte natürlich. Kaum waren wir eingestiegen, setzte sich der Zug in Bewegung, und wir fuhren los.« Was danach aus Juri wurde, wissen wir nicht. Er könnte in Leningrad oder in der Evakuierung gestorben sein, denn das Tagebuch, das 1970 nach einem Zeitungsaufruf ausgehändigt wurde, lässt sich bis in die Provinz Wologda zurückverfolgen. Möglicherweise überlebte Juri sogar den Krieg und war dann unfähig oder unwillig, Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen. Tatsächlich blieb von der Familie nicht mehr viel übrig. Sein Vater, den man während des Chaos von 1936/37 verhaftet hatte, kam irgendwo im Gulag um. Seine Mutter starb während der Evakuierungsfahrt auf einer Bank im Bahnhof von Wologda. Seine Schwester Ira verbrachte den Rest des Krieges in einem Kinderheim und wurde später von einer Tante aufgezogen. 15
Ein tröstlicher Belagerungsmythos besagt, dass sich die Evakuierten, sobald sie die Eisstraße erreichten, in bester Obhut und in Sicherheit befunden hätten. Sogar Dmitri Pawlow, der Nachschubchef, dessen Bericht aus der »Tauwetter«-Ära zu den freimütigsten des Genres gehört, behauptet, dass die Evakuierungen »sorgfältig durchdacht und gut organisiert« gewesen seien:
Eine Reihe von Feldküchen wurde an der Straße für die Evakuierten errichtet. Sobald die Leningrader den See überquert und Land erreicht hatten, wurden ihnen heiße Kohlsuppe, Kartoffeln und Fleisch und andere Speisen gereicht, von denen diese erschöpften Menschen Nacht um Nacht geträumt hatten. Der Duft des aus reinem Roggenmehl gebackenen Brotes berauschte die ausgehungerten Menschen. Nach ihrem ersten Schritt an Land wurde ihnen liebevolle Fürsorge zuteil. Jeder verspürte den innigen Wunsch, ihnen auf jede mögliche Art zu helfen. 16
Nichts hätte der Wahrheit ferner sein können. Die erste Härteprobe für die Evakuierten war die Eisenbahnfahrt nach Ossinowez, die, obwohl nur fünfundvierzig Kilometer lang, mehrere Tage dauern konnte. Nachdem sie am Seeufer ausgestiegen waren, mussten sie sich durch Bestechung Plätze in den Lastwagen ergattern, die den See überquerten. Jelena Kotschina konnte sich nur dadurch einen Weg durch die gewalttätige, lärmende Menge zu der Heckklappe eines Lkws bahnen, indem sie einem Fahrer zwei Liter Wodka zukommen ließ; Igor Krugljakows Mutter feilschte mit einem dicken, betrunkenen Fahrer, der einen Pelzmantel über einem Bauernkittel trug, indem sie ihm zuerst ein Päckchen Zigaretten, dann Geld und schließlich die silberne, mit einem Glockenspiel versehene Taschenuhr ihres Vaters überließ. Die Eisstraße selbst ähnelte an schönen Tagen dem Nordpol, einer blendend weißen, eintönigen Ebene (»die mohnrote Fahne des Fahrdienstleiters«, schrieb Inber, »ist aus einem Kilometer Entfernung zu sehen«), und nachts einem heulenden Strudel von Schneestürmen und schwarzer Leere. Ein paar Glückliche benutzten aus Moskau entsandte Busse, doch die meisten saßen in offenen oder mit Planen überzogenen Lastwagen, in denen man leicht an Unterkühlung sterben konnte. Etliche Passagiere waren zu schwach, um sich festzuhalten. Während die Laster über das Eis holperten, wurden sie hinuntergeworfen. Eine Rotarmistin, die der Route zugeteilt war, sammelte jeden Morgen die Leichen von fünf oder sechs Kleinkindern ein, die in den Fahrzeugen, die vor dem Morgengrauen über den See preschten, aus den Armen ihrer Mütter herausgeschleudert worden waren. 17
Am gegenüberliegenden Ufer war die Aufnahme völlig unzureichend. Tagebuchschreiber schildern, dass man stundenlang nach Suppe anstehen musste, dass es an Schlafgelegenheiten fehlte und dass um Plätze in den Zügen durch das unbesetzte Russland gekämpft wurde. Auch traf man, wenn Lebensmittel zur Verfügung standen, zunächst keine Maßnahmen, um die Verhungernden an einer übertriebenen und dadurch tödlichen Nahrungsaufnahme zu hindern. Ein Arzt, der eine Behandlungsstation in Schicharewo eingerichtet hatte, stellte fest, dass viele Evakuierte
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