Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Vater tot sei. Sie begann bitterlich zu weinen und erst dann schien es auf einmal, als sei nun auch der Tante etwas bewußt geworden: sie fiel ihrer Tochter in die Arme und zitterte am ganzen Körper vor Schluchzen. Für uns war es viel leichter, diesen Ausdruck des Kummers mit anzusehen als die schreckliche Starrheit, die sich jetzt immer bei allen Leningradern beobachten läßt. 10
Eine der traurigsten Belagerungsgeschichten ist die von Juri Rjabinkin, jenem Fünfzehnjährigen, der bei Kriegsbeginn auf dem Weg zu einem Schachwettbewerb gewesen war. Dieser linkische, nervöse Teenager, der unter grässlichen Umständen mit seiner Familie eingepfercht war, ist in vieler Hinsicht das sowjetische Gegenstück zu Anne Frank. Allerdings ist sein Ende viel ungewisser. Wie seine Freunde hatte er den Krieg zunächst mit kindlicher Aufregung begrüßt und die unerwartete Befreiung vom Schulunterricht dazu genutzt, Siebzehnundvier und Pfänderspiele zu spielen (»Lopatin kroch einen ganzen Aufgang der Wendeltreppe auf allen vieren hinauf, Finkelstein musste Bron Huckepack nehmen«). Außerdem hielt er Brandwache auf dem Dach der Sadowaja-Straße 34, des gepflegten Art-déco-Mietshauses (heute eine Bank), in dem er mit seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester wohnte.
Mitte Oktober fiel er allmählich »in den Trichter«: Zuerst beklagte er sich (»Vor Hunger knurrt mir der Magen, fließt mir der Speichel«), dann begann er, eine besser versorgte Familie zu hassen, die in ihre Gemeinschaftswohnung gezogen war (»Und ich schäme mich jetzt, wenn ich sehe, wie Mutter Wasser trinkt, A.N. dabeisteht und vom Theater redet … Diese Anfissa Nikolajewna gleicht einer fetten, satten Katze …« 11 ). Am Monatsende fiel es ihm schwer, die Treppe hinaufzuklettern, und er machte sich nicht mehr die Mühe, seine Kleidung zu wechseln. Obwohl er nur eine einzige Kerze zum Lesen besaß, versuchte er, sich in die Literatur zu flüchten – Dumas war »höchst unterhaltsam«, Jack Londons Liebe zum Leben »ein wunderbares Werk«. Zwei Wochen später war sein Gesicht durch Wassersucht angeschwollen, und er war besessen von Gedanken an Nahrung (nachts träumte er von Brot, Butter, piroschki und Kartoffeln). Seine Mutter ging jeden Morgen zur Arbeit und nahm seine jüngere Schwester mit. Juris Aufgabe war es, nach Rationen anzustehen:
Mutter kommt mit Ira, hungrig, durchfroren, müde. Sie können sich kaum fortbewegen. Zu Hause kein Essen, kein Feuerholz für den Herd. Nur Geschimpfe und Vorwürfe, daß unten jemand wohnt, der Graupen und Fleisch gekriegt hat, ich das aber nicht fertiggebracht habe … Und wieder muß ich anstehen und ohne Ergebnis … Ja, wenn ich Filzstiefel hätte! 12
Im Dezember wirken seine Einträge fast hysterisch – eine Mischung aus Tagträumen (»Mutter geht als Bibliothekarin in ein neu einzurichtendes Lazarett, und ich werde ihr Helfer oder ihr Kulturfunktionär«), aus Selbsthass, weil er ein paar Krümel aus dem Lebensmittelvorrat der Familie stibitzt hat, und Paranoia:
Welche Folterqualen Mutter und Ira mir abends bereiten! Bei Tisch ißt Ira absichtlich lange, nicht nur, um Vergnügen daran zu haben, sondern auch um zu genießen, daß sie noch ißt, die anderen aber, die bereits fertig sind, beobachten sie mit hungrigen Augen. Mutter ißt immer zuerst und nimmt dann ein bißchen von jedem von uns. Beim Brotverteilen fängt Ira an zu weinen … 13
Am Ende des Monats werden die Einträge zu einem ungeordneten, wilden Gekritzel: »Ich sterbe, ja ich sterbe und möchte doch so gern leben, wegfahren, leben, leben!« und: »Wo ist Mama? Wo ist sie?« Die letzte Notiz ist auf den 6. Januar datiert:
Ich kann fast überhaupt nicht mehr gehen oder arbeiten. Bin völlig entkräftet. Mutter schleppt sich auch gerade noch umher. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie sie das schafft. Sie schlägt mich jetzt oft, schimpft, schreit, hat heftige nervöse Anfälle und kann meinen nichtsnutzigen Anblick nicht ertragen – den eines vor Kräftemangel schwachen, hungernden, erschöpften Menschen, der sich kaum vom Fleck rühren kann, der stört und krank und kraftlos »tut«. Aber ich simuliere doch meine Schwäche nicht … O Gott, was geht mit mir vor? 14
Vierzig Jahre später fanden die Belagerungshistoriker Alex Adamowitsch und Daniil Granin von Juris Schwester Ira heraus, was geschehen war: Juri blieb in Leningrad zurück. Seine Mutter hatte der ganzen Familie Evakuierungsplätze verschafft, Besitztümer für
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