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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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sämtliche Trockenrationen – geräucherte Wurst und Brot – für die dreitägige Eisenbahnreise nach Tischwin sofort verspeisten, wodurch ihnen der Magen platzte. Nachdem er den Leiter des Evakuierungszentrums vergeblich gebeten hatte, das Verfahren zu ändern, gelang es ihm schließlich, mit angereisten Vertretern des Moskauer Staatlichen Verteidigungskomitees zu sprechen. Er beschrieb die Ergebnisse seiner Autopsien und überzeugte die Besucher, dass Evakuierte unterwegs nur kleine Nahrungsmengen, nämlich Hirse und Grieß, die in den Kesseln des Zuges gekocht wurden, erhalten sollten. 18
    Ein typischer Bericht über die gesamte – in ihrem Charakter und Verlauf durch und durch sowjetisch zu nennende – Evakuierung stammt von Wladimir Kuljabko, einem fünfundsechzigjährigen verwitweten Kältetechniker. Nachdem er die erste Winterhälfte durch die Geschenke einer Nachbarin, die in einem Lebensmittelgeschäft arbeitete, überlebt hatte, wurde ihm im Februar ein Platz in einem der ersten Konvois über die Eisstraße angeboten. Er akzeptierte in der Hoffnung, seinen Sohn, einen Armeearzt, zu erreichen; dieser war in Tscherepowez stationiert, einem Ort vierhundert Kilometer östlich von Leningrad an der Eisenbahnstrecke nach Wologda. Kuljabko teilte seinem Hausverwalter mit, dass er lediglich umziehen werde, hinterließ seine Schlüssel bei einem Nachbarn und bezahlte einen anderen mit Öl, Makkaroni und Nüssen, damit der Mann ihm half, seinen Koffer zum Finnischen Bahnhof zu befördern. Die drei Kilometer lange Wanderung von der Sadowaja-Straße dauerte, Ruhepausen auf Sandkästen eingeschlossen, zwei Stunden. Der Zug hätte um 10.30 Uhr abfahren sollen, erschien jedoch erst um 18 Uhr, und Kuljabko entdeckte, dass mit Gepäck beladene »Geschäftsleute« sein Abteil besetzt hatten. Nach langen Debatten schaffte er es, sich und seinen Koffer, einen Korb und ein Kissen in den frostigen Abschnitt zwischen zwei Waggons, in dem sich gewöhnlich Raucher versammelten, zu quetschen. Der Zug setzte sich um ein Uhr morgens endlich in Bewegung, und man verteilte Lebensmittel. Um etwas abzubekommen, musste Kuljabko, wie er bald begriff, eine Bestechungssumme zahlen. Ein Zettel – »400 Gramm Brot für Kuljabko, Betrag beigelegt, Wechselgeld nicht erforderlich« – erfüllte den Zweck. »Innerhalb von zehn Minuten hatte ich mein Brot. Durch Erfahrung klug geworden, tat ich das Gleiche, um meine Suppe zu bekommen.« Bei der Ankunft in Ossinowez sechs Stunden später bemerkte er fünfzehn Leichen, die neben den Gleisen lagen.
    Um in einen Lastwagen steigen und den See überqueren zu können, musste er erneut zum Mittel der Bestechung greifen:
    Ich wartete, hungrig und ohne Essen wie alle anderen (trotz der Tatsache, dass man uns in Leningrad drei Mahlzeiten pro Tag versprochen und uns die entsprechenden Coupons gegeben hatte). Gegen 17 Uhr machte ich den Diensthabenden ausfindig, aber er wimmelte mich mit irgendeinem Unsinn ab, und ich sah ein, dass ich nicht so bald aufbrechen würde. Die Lastwagen kamen und gingen, aber die Verantwortlichen hielten sich an keine Liste oder Schlange, sondern wählten die Passagiere selbst aus … Ich näherte mich dem Chef erneut und versicherte ihm, dass ich krank sei und mich meinem Sohn, einem mit Orden ausgezeichneten Soldaten, anschließen wolle.
    Kurz darauf trat ein Aufseher auf ihn zu, der sich mit 500 Gramm Tabak für einen Platz in dem nächsten geschlossenen Lastwagen zufriedengab. Vier Stunden später war Kuljabko an Bord, nachdem er den Tabak klugerweise erst ausgehändigt hatte, als sein Gepäck und er in dem Wagen untergebracht waren. »Das gleiche Bestechungssystem, wenn auch auf einer niedrigeren Ebene, war im Lastwagen selbst wirksam. Der Fahrer verlangte ständig Zigaretten und erhielt sie auch. Sonst fuhr er langsamer, oder irgendetwas ging schief. Eine Zigarette im richtigen Moment ließ sämtliche Probleme verschwinden.« Der Lkw stand drei Stunden lang in einem Stau mit Lebensmittelwagen, die die entgegengesetzte Richtung einschlugen, und traf schließlich am folgenden Morgen um 5 Uhr am anderen Ufer, dem »Festland«, ein.
    Obwohl Kuljabko nun aus dem Belagerungsring entwichen war, hatte er die Schwierigkeiten noch längst nicht überwunden. Zuerst musste er drei Stunden nach Kascha und Suppe anstehen; von den Evakuierten wurde erwartet, dass sie Teller und Löffel mitbrachten, weshalb er der Kellnerin fünfzig Rubel und seinen Pass als Pfand für eine Schüssel gab.

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