Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
mussten sie eine Ortsbehörde finden, die ihnen Lebensmittelkarten und Unterkünfte zur Verfügung stellte. Da es überall Vertriebene und chronischen Nahrungsmangel gab (sogar in Moskau starben im Winter 1941/42 Bettler auf den Straßen), war dies extrem schwierig. Jelena Skrjabina, die die Eisstraße im Februar überquerte, musste zuerst miterleben, wie ihre Mutter in einem chaotischen sogenannten Krankenhaus in Tscherepowez starb, um anschließend wochenlang mit ihrem abgezehrten Sohn auf der Suche nach einem mitfühlenden Funktionär von einem Eisenbahnort zum anderen zu reisen. Als sie endlich in Gorki (heute Nischni Nowgorod) jemanden fand, war es den erwähnten swjasy zu verdanken: Der ehemalige Arzt der Familie war dort zum hohen Parteifunktionär aufgestiegen. »Und sein Name hat magische Wirkung … [Ein Angestellter] schob die vor mir stehenden Leute beiseite und bat uns liebenswürdig, ihm zu folgen. Er führte uns direkt in das Büro des Sekretärs des Städtischen Parteikomitees von Gorki … Nach etwa zehn Minuten ging ich mit drei Bescheinigungen hinaus: zwei davon sichern uns Sonderrationen, eine ermöglicht uns die Ausreise aus Gorki mit einem besonderen Transport, der direkt in den Kaukasus fährt.«
Die Zurückweisungen, die Skrjabina bis dahin erfahren hatte, waren eigentlich vorhersehbar – im gleichen Maße ein Ergebnis der allgemeinen Kriegsmängel, des Durcheinanders und der bürokratischen Nachlässigkeit. Aber sie schätzte das als Bosheit und als persönlichen Affront ein. »Ich fühle mich von der Welt abgeschnitten«, schrieb sie. »Robinson Crusoe war, glaube ich, glücklich dran. Der wußte, daß er sich auf einer unbewohnten Insel befand, daß er auf sich allein angewiesen war. Wir hingegen befinden uns unter Menschen.« 24
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Leichenfresserei und Menschenfresserei
Ein anderer Aspekt der Belagerung, der keinen Platz in der traditionellen Sowjetgeschichte findet, ist die Kriminalität. Die Leningrader, behauptet Versorgungskommissar Dmitri Pawlow, seien zu »hochsinnig« gewesen, um Brote, die aus einem durch Geschosse beschädigten Lastwagen hervortrudelten, an sich zu raffen. Sie hätten sogar die Parkbäume »eifrig davor geschützt, zu Feuerholz gemacht zu werden«. Ihr Beispiel habe die Erklärungen »ausländischer Autoren« widerlegt, »die verkünden, dass der Mensch seine Moral einbüßt und zu einem Raubtier wird, wenn der Hunger machtvoll auf ihn einwirkt. Träfe dies zu, hätte in Leningrad Anarchie herrschen müssen.« 1
In Leningrad herrschte während der Belagerung zwar keine Anarchie, doch die Stadt litt unter einer Verbrechenswelle, die insbesondere Diebstahl und Mord wegen Lebensmitteln und Lebensmittelkarten und – berüchtigt – Kannibalismus umfasste. Das häufigste aller Gewaltverbrechen war der einfache Raub. Jelena Kotschina, die Mitte Dezember 1941 von einem Brotladen heimkehrte, sah einen halbwüchsigen Jungen in der Uniform einer Gewerbeschule auf sich zulaufen. Sie trat beiseite, doch er packte ihr Brot und rannte weiter, wonach sie entsetzt auf ihre leeren Hände starrte. Zu Hause machte eine Nachbarin ihr Vorwürfe, weil sie das Brot nicht unter ihrem Mantel verborgen habe. Vier Tage später wurde Jelenas Mann wegen einer fallen gelassenen Brotkruste mit einem anderen Gewerbeschüler in einen Streit verwickelt:
Heute traf [Dima] auf ein paar mit Brot beladene Schlitten. Fünf bewaffnete Wächter begleiteten sie, und eine Menschenmenge, die die Laibe wie gebannt fixierte, folgte ihnen. Dima schloss sich allen anderen an. Am Brotgeschäft wurden die Schlitten entladen. Die Menge fiel über die leeren Kästen her und suchte nach zerkrümelten Brotstücken. Dima fand eine große Kruste, die in den Schnee getrampelt war. Aber ein Junge riss sie ihm aus den Händen. Er kaute darauf, dieser grässliche Flegel, schmatzte mit den Lippen und sabberte. Dima verlor die Beherrschung. Er packte den Jungen am Kragen und schüttelte ihn, ohne zu wissen, was er tat. Der Kopf des Jungen ruckte auf seinem dünnen Hals hin und her wie der einer Stoffpuppe. Doch er kaute mit geschlossenen Augen eilig weiter. »Sie ist weg, sie ist weg! Guck mal!«, rief er plötzlich und machte den Mund weit auf. 2
Die Gewerbeschüler, die in Dutzenden ähnlicher Berichte als Diebe genannt werden, gehörten, wie die bäuerlichen Flüchtlinge in den Vororten, zu einer der besonders schutzlosen sozialen Gruppen Leningrads. 3 Die Gewerbeschulen ( remeslennyje utschilischtscha ),
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