Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
deren Zahl man kurz vor dem Krieg erheblich erhöht hatte, waren Internate, in denen Jugendliche aus den Dörfern zu Fabrikarbeitern ausgebildet werden sollten. Sie galten als minderwertig. Nachdem sich der Belagerungsring geschlossen hatte, waren die Schüler von ihren Familien abgeschnitten und damit in vielen Fällen nachlässigen oder skrupellosen Schulverwaltern ausgeliefert. Alexej Kossygin, der aus Moskau entsandte Kommissar, der die Massenevakuierung über die Eisstraße beaufsichtigen sollte, konnte nicht übersehen, dass diese Jungen noch magerer als die übrige Bevölkerung waren. Er sah sich veranlasst, die Gewerbeschule Nr. 33 persönlich zu inspizieren. Wie er entdeckte, waren die Jungen verlaust und schliefen, ohne Laken oder Kissenbezüge, jeweils zu zweit oder zu dritt in einem Bett, wobei Kranke und Gesunde nicht voneinander getrennt wurden. Noch schändlicher war, dass das Küchenpersonal die Lebensmittelbestände systematisch plünderte und den Kindern nur die Hälfte der Rationen (oder noch weniger) zukommen ließ. Ein Schülervertreter, schrieb Kossygin wütend an Schdanow, solle die Küchen kontrollieren; die leitenden Angestellten und das übrige Personal seien zu verhaften und vor Gericht zu stellen. Die Sterblichkeitsziffer in den Gewerbeschulen ist unbekannt, doch sie wird auf kaum glaubliche 95 Prozent geschätzt. 4
Die Zahl der Diebstähle durch Tausende der anderen verlassenen Kinder Leningrads verringerte sich erst dadurch, dass man achtundneunzig neue Waisenhäuser eröffnete und später evakuierte. Allerdings nahmen viele von ihnen nur Kinder unter dreizehn Jahren auf. »Die Lage der elternlosen Vierzehn- und Fünfzehnjährigen«, stand in einem Bericht an Schdanow, »ist besonders schwierig. Sie werden von Kinderheimen zurückgewiesen, versammeln sich vor Bäckereien und anderen Läden und reißen Käufern Brot und sonstige Nahrungsmittel aus den Händen.« Das Personal der städtischen Erziehungsabteilung, hieß es weiter, schicke nicht einmal jüngere Kinder in Waisenhäuser, wenn sie nicht sauber, frei von Infektionen und im Besitz aller erforderlichen Papiere seien. 5 Von größerem Interesse für die Miliz war die Gefahr, dass wütende Mengen an den Brotläden außer Kontrolle gerieten und zu plündern begannen. Zwar wurde die Lebensmittelverteilung nie ernstlich gestört, doch es kam zu krawallähnlichen Vorfällen, vor allem im Januar und Februar 1942, als die Leningrader schon in den frühen Morgenstunden aufstanden, um sich in die Schlangen einzureihen, und häufig trotzdem kein Brot erhielten. An einem späten Januarabend hielt Dmitri Lasarew Ausschau nach seiner Frau, die sich am selben Morgen um sieben Uhr einer Schlange angeschlossen hatte. Er fand sie vor einem Brotladen auf dem Bolschoi-Prospekt:
Die Menschen wurden jeweils zu zehnt in das Geschäft eingelassen. Einmal, als wieder zehn an der Reihe waren, stürmten alle hinter ihnen ebenfalls vor und begannen, die Türen einzuschlagen. Zwei Polizisten versuchten, die Menge zurückzuhalten, und behaupteten schließlich, dass sie alle einlassen würden, sobald die Menge ein paar Schritte zurücktrat. Als die Menschen ihrem Rat folgten, verriegelten sie die Türen und gaben bekannt, dass der Laden geschlossen sei und alle nach Hause gehen sollten. Man hörte laute Rufe und Beschwerden, denn manche hatten seit zwei Tagen nichts gegessen und andere hatten hungernde Kinder.
Die Ordnung wurde erst wiederhergestellt, als Lasarew und ein paar andere Männer an die Hintertür des Ladens traten und den Geschäftsführer überredeten, die Rationen für weitere siebzig Leute freizugeben. 6 Insgesamt verzeichnete das NKWD in den ersten siebenundzwanzig Januartagen zweiundsiebzig derartige »Angriffe« auf Lebensmittelläden, -karren und -schlitten. In einem Fall bewarfen Plünderer das Personal mit Ziegelsteinen, doch meistens drangen die Wartenden nur hinter den Tresen vor, oder kleine Gruppen (manchmal bewaffnete Deserteure, doch häufiger Frauen oder Gewerbeschüler) stießen Lieferschlitten oder Handkarren um und verschwanden mit der Ladung. 7 »In Brotladen Nr. 218«, wird in einem typischen Bericht von Anfang Januar gemeldet,
stürzte die Menge, aufgehetzt von einer unbekannten Person, hinein und schleppte 100 Kilo Brot fort. Es gelang uns, ein paar Menschen zu verhaften. In Brotladen Nr. 399 wurden etwa 50 Kilo Brot von der Menge gestohlen, doch kein einziger Plünderer konnte verhaftet werden. Eine Gruppe fiel über den
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