Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Wenn ein Zug eintraf, wurde er von der rasenden Menge gestürmt. Kuljabko heuerte für dreißig Rubel einen Soldaten als Gepäckträger an und schaffte es, mit ein paar abgemagerten Ingenieursstudenten auf einen Güterwagen zu klettern. Die jungen Männer ließen ihn jedoch nicht in die Nähe des mit Heu geheizten Ofens. Fünf Tage und schlaflose Nächte später – unterbrochen von langem Schlangestehen nach Essen, von Bagatelldiebstählen und dem Tod eines der Studenten, dessen Freunde die Leiche aus der Tür stießen – erreichte er Tscherepowez:
Ich krieche aus dem Waggon, stürze, natürlich, zerre meine drei Bündel herunter und rufe: »Helft mir, die Sachen zum Bahnhof zu tragen.« Niemand hört auf mich. Ich versuche, sie selbst zu schleppen, aber sie sind schwer, und ich stürze erneut. Ich stehe verzweifelt da. Dann entdecke ich einen Straßenjungen und bitte ihn, mein Gepäck zum Bahnhof zu tragen. Er fragt: »Gibst du mir was zu rauchen?«, und ich verspreche es ihm … Wir kommen zum Bahnhof, und ich erkundige mich bei einem Polizisten: »Wie erreiche ich diese Adresse?« Er erwidert, auf dem Platz stünden Pferdekutschen. Einfältig gehe ich zum Platz, gebe dem Jungen eine Zigarette und schaue mich nach den Kutschen um. Aber sie existieren nicht und haben nie existiert. Ich wende mich an diesen und jenen um Hilfe, doch niemand reagiert. Also schleppe ich meine Sachen zur Gepäckabgabe, die glücklicherweise nicht weit weg ist. Ich stoße den Koffer mit den Füßen über den Schnee und trage alles andere. Einen Meter, anderthalb Meter, und ich muss mich ausruhen. Den Tränen nahe, bleibe ich stehen. Wie soll ich mich zu Borja durchschlagen?
Sein Erlöser war ein junger Soldat, der jeden Dank ablehnte, sein Gepäck ergriff und ihn zu Borjas Krankenhaus begleitete; unterwegs bot er Kuljabko einen Zwieback aus seiner Armeeration an. 19 Zur Zeit von Kuljabkos Reise war das Massenevakuierungsprogramm erst seit weniger als einer Woche im Gange, aber die Bedingungen blieben chaotisch bis Mitte April, als die Lastwagen durch das Frühjahrstauwetter bis zu den Radachsen im Schmelzwasser steckten und nicht mehr weiterkamen. 20
Wie viele Menschen wurden durch die Eisstraße insgesamt gerettet? Im Januar 1942 überquerten offiziell 11296, im Februar 117434, im März 221947 und im April 163392 Evakuierte den Ladogasee, was in weniger als vier Monaten eine beeindruckende, den Plan übertreffende Zahl von 514069 ergab. 21 Dabei werden jedoch diejenigen nicht berücksichtigt, die unterwegs starben – entweder während der Überfahrt oder in den Zügen, mit denen sie ins unbesetzte Russland reisten. In den überfüllten, toilettenlosen Güterwagen, auf die zum Beispiel Kotschina angewiesen war, grassierten Mageninfektionen:
Wann immer jemand »ein Bedürfnis verspürt«, nimmt gewöhnlich die ganze »Öffentlichkeit« des Waggons an der Realisierung Anteil. Es funktioniert folgendermaßen: Die Tür wird durch gemeinsame Anstrengung geöffnet, der Urheber der Unruhe lässt die Hose fallen und steckt das Hinterteil hinaus in den Wind. Mehrere Personen halten ihn an den Händen und unter den Armen fest. [Bei Aufenthalten] klettern wir alle aus dem Zug und hocken uns neben die Waggons, Seite an Seite – Männer, Frauen und Kinder. Die Einheimischen versammeln sich und starren uns entsetzt an … Aber wir sind gleichgültig all dem gegenüber. Wir empfinden keine Scham oder sonstige Gefühle … Die Kranken fahren mit uns, bis sie sterben. Dann werfen wir sie einfach aus dem rollenden Zug. 22
Die Versorgung der Evakuierten war sogar auf dem »Festland« noch unzulänglich. Dies wird durch einen NKWD-Bericht vom 5. März bestätigt, in dem von »verantwortungsloser und herzloser« Behandlung der Evakuierten durch das Personal an der Empfangsstelle sowie von »unmenschlichen« Verhältnissen in den Zügen die Rede ist. Aus einem der Züge waren am Bahnhof Wolchow siebzehn Tote, in Babajewo zwanzig, in Tscherepowez sieben und in Wologda sieben weitere entfernt worden. Aus einem anderen hatte man sechsundzwanzig Leichen in Wolchowstroi, zweiunddreißig in Tichwin, vier in Babajewo und sechs in Wologda herausgeholt. 23 Ein Massengrab in Wologda, in dem hauptsächlich Flüchtlinge aus Leningrad beigesetzt sind, soll die sterblichen Überreste von 20000 Menschen enthalten.
Die Überlebenden der Evakuierungsreisen hatten ein weiteres Problem: Wenn sie keiner Institution angehörten oder in Reichweite von Verwandten waren,
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