Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Straßenräubern und Mördern als vor Stille, Leere und Isolation fürchteten. Die elfjährige Angelina Kupaigorodskaja verbrachte den Winter allein in der Wohnung ihrer Familie an der Fontanka, da sich ihre Eltern, beide Chemieingenieure, an ihrem Arbeitsplatz einquartieren mussten. Sieben Jahrzehnte später führt sie ihr Überleben auf eine Liste von Regeln zurück, die ihr Vater für sie niedergeschrieben hatte: Sie solle sich täglich waschen und ihren Toiletteneimer leeren, nie mehr als eine einzige Tagesration abholen und regelmäßig das Postamt für den Fall aufsuchen, dass Verwandte Geld überwiesen hatten. Das Haus zu verlassen sei beängstigend gewesen, doch nicht weil sie sich vor Verbrechen fürchtete (im Gegenteil, sie habe erst lange nach dem Krieg gelesen, dass es so etwas gegeben hatte). Damals fühlte sie sich »allein in der Stadt, ganz allein. Ich ging jeden Tag zum Laden und zurück, betrat unseren Hof, stieg die Treppe hinauf und öffnete meine Tür. Jeder hätte mich mit dem kleinen Finger umstoßen können. Aber ich begegnete nie einer Seele.« 16 Jelena Kotschina trat gewöhnlich in den Treppenflur, um auf die Ankunft ihres Mannes zu warten, wenn er von einem seiner Brotdiebstähle zurückkehrte: »Von unten stieg die Stille auf wie Dampf und verdichtete sich auf der Treppe. Ich spuckte den Treppenschacht hinunter und hörte zu, wie der Speichel unten dröhnend aufschlug. So stand ich, spuckend und lauschend, lange in der Dunkelheit.« 17
Das berüchtigste Verbrechen der Belagerungszeit – und das bezeichnendste für die Verzweiflung der Leningrader – war Kannibalismus. Die Dichterin Olga Berggolz erfuhr davon zum ersten Mal von einem befreundeten Psychiater:
Vor nicht langer Zeit teilte Prendel uns mit, dass die Leichenfresserei zunimmt. Im Mai [1942] hatte sein Krankenhaus mit fünfzehn Fällen zu tun, verglichen mit elf im April. Er musste – und muss immer noch – als Sachverständiger darüber aussagen, ob Kannibalen für ihre Handlung verantwortlich sind. Kannibalismus – eine Tatsache. Er erzählte uns von einem kannibalischen Paar, das zuerst die kleine Leiche ihres Kindes verzehrte, dann drei weitere Kinder in eine Falle lockte, sie ermordete und ebenfalls aufaß. Aus irgendeinem Grund fand ich seine Worte lustig – wirklich lustig, besonders wenn er versuchte, die Kannibalen zu entlasten. Ich entgegnete: »Aber du hast doch deine Großmutter nicht gegessen!« Danach konnte ich seine Kannibalengeschichten einfach nicht mehr ernst nehmen. All das ist so abscheulich – Kannibalen, Dächer mit Löchern darin, herausgesprengte Fensterscheiben, sinnlos zerstörte Städte. O ja, das Heldentum und die Romantik des Krieges! 18
Bis zur Veröffentlichung von Milizunterlagen im Jahr 2004 waren die Hinweise darauf, dass während der Belagerung Menschenfleisch gegessen wurde, eher anekdotischer Art. Damals glaubte man den Gerüchten, dass Kinder auf der Straße entführt worden seien, und in Tagebüchern ist von Leichen die Rede, die nicht nur ihrer Kleidung, sondern auch ihrer Schenkel und Gesäße beraubt wurden. Die schauerliche Beschreibung eines jungen Paares, das in eine zum Schlachthaus gewordene Wohnung gelockt wurde (von Harrison Salisbury in seinem Buch 900 Tage als Tatsache wiedergegeben), erweist sich bei näherer Betrachtung als Szene aus einem Roman, den man, vermutlich im Rahmen der nationalsozialistischen Propaganda, in der besetzten Ukraine veröffentlicht hatte. 19
Die meisten Menschen wussten vom Kannibalismus weniger aus persönlicher Erfahrung, sondern eher durch Horrorgeschichten aus zweiter Hand. »Auf dem Pokrowskaja-Platz«, schrieb der Geografielehrer Alexej Winokurow, »stieß ich auf eine Menschenmenge, die stumm die Leiche einer ungeschickt geschlachteten drallen jungen Frau betrachtete. Wer hat das getan und warum? Werden die hartnäckigen Gerüchte über Kannibalismus dadurch untermauert?« 20 Als eine recht gesunde Bekannte von Dmitri Lichatschow nicht heimkehrte, nachdem sie sich zum Zweck eines Tauschhandels zu einer zwielichtigen Adresse begeben hatte, überlegte er, ob sie von den finsteren Gestalten ermordet worden sei, die auf dem Heumarkt Hackkoteletts anboten. 21 Olga Gretschina, die den Lohn in ihrer Fabrik abholte, fiel auf, dass sich Metallspäne um die Werkbänke angesammelt hatten. Daraufhin erkundigte sie sich, was aus der alten Putzfrau, die den Kosenamen Tante Nastja trug, geworden sei. Die Antwort, dass man Nastja hingerichtet habe,
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