Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
kam ihr zunächst wie ein Witz vor: »Aber nein, es stimmt! Sie hat ihre Tochter gegessen – unter dem Bett versteckt und Stücke von ihr abgeschnitten. Die Miliz hat sie erschossen. Heutzutage wird man gar nicht erst vor Gericht gestellt.« 22
Die Stadtverwaltung wurde vom NKWD, das die ersten neun Fälle des »Gebrauchs von Menschenfleisch als Speise« in einem Situationsbericht vom 13. Dezember 1941 anführte, detailliert auf dem Laufenden gehalten. Eine Mutter hatte ihre achtzehn Monate alte Tochter erstickt, um sich selbst und drei ältere Kinder zu ernähren; ein sechsundzwanzigjähriger Mann hatte, nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes in einer Reifenfabrik, seinen achtzehnjährigen Zimmergefährten ermordet und gegessen; ein Metallarbeiter (ein Parteimitglied) und sein Sohn hatten zwei weibliche Flüchtlinge mit einem Hammer erschlagen und ihre Körperteile in einem Schuppen versteckt; ein arbeitsloser Klempner hatte seine Frau umgebracht, um ihre jugendlichen Söhne und Nichten zu ernähren, ihre Überreste verbarg er in den Toiletten des Lenenergo-Wohnheims. 23 Zehn Tage später wurden dreizehn weitere Fälle gemeldet: Ein erwerbsloser Achtzehnjähriger hatte seine Großmutter mit einer Axt ermordet, ihre Leber und Lunge gekocht und aufgegessen; ein Siebzehnjähriger hatte eine unbeerdigte Leiche von einem Friedhof gestohlen und sie durch einen Tisch-Fleischwolf gedreht; eine Reinmachefrau hatte ihre einjährige Tochter getötet und sie an ihren zweijährigen Sohn verfüttert. 24 Zu den Ersten, die Menschenfleisch aßen, gehörten die kriminell vernachlässigten Schüler der remeslennyje utschilischtscha . In der Gewerbeschule Nr. 39 in der Mochowaja-Straße
waren die Schüler sich selbst überlassen. Sie wurden nicht beaufsichtigt und erhielten für Dezember keine Lebensmittelkarten. Den ganzen Monat hindurch aßen sie das Fleisch von Katzen und Hunden. Am 24. Dezember starb der Schüler Ch. an Unterernährung, und seine Leiche wurde von den anderen Zöglingen teilweise verzehrt. Am 27. Dezember verhungerte ein zweiter Schüler namens W., dessen Leiche ebenfalls gegessen wurde. Elf Personen sind wegen Kannibalismus verhaftet worden; alle haben ihre Schuld zugegeben. Schuldirektor Leimer und Kommandantin Plaxina, die dafür verantwortlich sind, dass diese Gruppe von Schülern ohne Nahrung oder Aufsicht zurückblieb, werden strafrechtlicher Verfolgung unterzogen. 25
Insgesamt verhaftete die Miliz im Dezember nur 26 Personen wegen Kannibalismus, doch die Zahl stieg im Januar auf 356 und im Februar auf 612. Sie halbierte sich im März und April auf 300, erhöhte sich im Mai wieder ein wenig und sank im Juni und Juli stark ab. 26 Bis Dezember 1942, als das Phänomen allmählich verschwand, waren 2015 »Kannibalen« verhaftet worden. 27
In der russischen Sprache trifft man eine moralisch wesentliche Unterscheidung zwischen trupojedstwo (»Leichenfresserei«) und ljudojedstwo (»Menschenfresserei«), also Mord aus Gründen des Kannibalismus. Trotz der grausigen Fälle innerfamiliärer Tötungen, die von der Miliz hervorgehoben wurden, war Ersteres weit häufiger (zum Beispiel erwiesen sich von den 300 »Benutzern von Menschenfleisch als Speise«, die im April 1942 verhaftet wurden, nur 44 als Mörder). 28 Organisiertes Gangstertum war extrem selten: In den NKWD-Berichten ist nur von einem einzigen derartigen Fall die Rede – dem von sechs jungen Männern, darunter drei Eisenbahnarbeiter, die dreizehn Personen, zumeist vor Brotläden, mit dem Angebot eines Tauschhandels überredet hatten, ihnen in eine Wohnung zu folgen. Dort hatten sie die Opfer mit einem Schlag auf den Hinterkopf getötet. 29 Auch kam Kannibalismus im Zentrum erheblich seltener vor als in den Vororten, die ärmer waren, weniger sorgfältig von der Miliz überwacht wurden und wo die überfüllten Friedhöfe lagen. (Die meisten Verhaftungen wurden in den entlegenen Primorski- und Krasnogwardeiski-Bezirken und an der industriellen Wyborger Seite vorgenommen; die wenigsten im Smolny-Bezirk, in dem sich die Parteizentrale befand. 30 ) Am 22. Dezember hielten Polizisten, die am Serafimowskoje-Friedhof in Nowaja Derewnja patrouillierten, zwei Frauen an, die Säcke mit den Leichen von drei Kleinkindern mit sich trugen. Im Verhör stellte sich heraus, dass die eine mit einem Frontsoldaten, die andere mit einem Hausmeister verheiratet war und dass sie geplant hatten, ihre Töchter (im Alter von achtzehn und sechzehn Monaten) mit dem Fleisch zu
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