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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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geisteskrank einstufen zu lassen. Am 20. Februar 1942 berief der Chef des medizinischen Dienstes der Leningrader Front eine Sondersitzung von sieben erfahrenen Psychiatern ein – darunter Hochschullehrer, der Leiter einer psychiatrischen Anstalt, der Chefpsychiater der Gerichte und ein Vertreter des militärmedizinischen Dienstes –, um zu entscheiden, ob Leichenfresser für ihre Taten strafrechtlich belangt werden könnten. Das Urteil der Ärzte war auch vom juristischen Standpunkt aus widersprüchlich: Leichenfresser seien zurechnungsfähig, aber nicht unheilbar kriminell. Eine hiervon abweichende Stimme argumentierte, definitionsgemäß könne keine geistig gesunde Person Kannibalismus begehen, aber sie sei trotzdem vor Gericht zu stellen: »Dies sind zurückgebliebene und sozial gefährliche Menschen! Wir müssen streng mit ihnen umgehen!« Am Ende entschied man, Kannibalen seien zumeist geistig gesund, doch »primitiv, von einem niedrigeren moralischen und intellektuellen Niveau«. Zwar seien alle gefährlich, doch »Zeiträume der Isolierung« müssten individuell festgelegt werden, wobei die Umstände des Verbrechens (»aktive oder passive Leichenfresserei«) und die Persönlichkeit des Missetäters zu berücksichtigen seien. 38
    In der Praxis jedoch wurden sämtliche Kannibalen – ob zurechnungsfähig, wahnsinnig, Mörder oder harmlose »Leichenfresser« – als Kriminelle behandelt. Da das Strafgesetzbuch Kannibalismus nicht vorsah, wurde er dem Pauschalbegriff »Banditentum« (Artikel 59,3 des Strafgesetzbuchs) zugeordnet. Zur Zeit der Zusammenkunft der Psychiater waren bereits 554 »Banditen der speziellen Kategorie« vor Militärgerichte gestellt worden; davon hatte man 329 erschossen und 53 zu zehnjähriger Haft verurteilt. Mindestens 45 weitere waren im Gewahrsam gestorben (mutmaßlich an Hunger). 39 Doch obwohl keine offizielle Unterscheidung zwischen Mördern und »Leichenfressern« getroffen wurde, deuten die abweichenden Urteilssprüche darauf hin, dass Letztere relativ gut davonkamen. Von den 1913 Kannibalen, deren Fälle man bis Anfang Juni abgeschlossen hatte, wurden 586 zur Hinrichtung und 668 zu Haftstrafen von fünf bis zehn Jahren verurteilt. 40 Was den übrigen 659 zustieß, ist ungewiss. Vielleicht warteten sie noch auf ihr Urteil, vielleicht trafen sie aber auch auf Milde. Es mag nicht nur Wunschdenken sein, wenn man hinter der häufig wiederkehrenden Feststellung, der typische »Benutzer von Menschenfleisch als Speise« sei eine mittellose Frau mit abhängigen Kindern und ohne Vorstrafen, verschlüsselte Aufrufe zur Nachsicht vermutet. Es wäre eine Erleichterung zu wissen, dass diese Aufrufe gehört wurden.

 
    16
    Anton Iwanowitsch ist wütend
    Wer im Winter 1941/42 den Newski-Prospekt hinunterging, begegnete einer seltsamen Erinnerung an das Leben der Friedenszeit. Etliche Werbezettel für eine Filmkomödie, die bei Kriegsbeginn ihre Premiere hätte feiern sollen, klebten mit großen schwarzen Buchstaben an den Laternenpfählen. Ihr Titel war Anton Iwanowitsch ist wütend .
    Wie wütend waren die Bürger von Leningrad, und warum mündete ihre Wut nie in eine offene Revolte? In gewisser Weise ist dies eine unsinnige Frage, denn wie andere Sowjetbürger empfanden auch die Leningrader Loyalität gegenüber ihrem Land, wenn auch nicht unbedingt gegenüber dem Bolschewismus; sie hassten und fürchteten die Deutschen und waren zu erschöpft und geschwächt, um an mehr als ihr eigenes Überleben zu denken. Doch andererseits ist es auch ein Rätsel. Hunderttausende hatten bereits vor dem Krieg – und durch die Taten ihrer eigenen Regierung – Unterdrückung und Verarmung am eigenen Leibe erlebt; nun waren fast alle entweder selbst dem Hungertod nahe oder schauten hilflos zu, wie Angehörige und Freunde um sie herum starben. Zudem waren die Scheinheiligkeit und Ungleichheit des Sowjetlebens ausgeprägter denn je. Die Menschen sahen mit eigenen Augen, dass die Lichter in Regierungsgebäuden nicht ausgingen, dass die Korruption blühte und die Kinder ihrer Vorgesetzten genug zu essen bekamen, während die eigenen hungerten. Moskau war abgetrennt, die einfachen Polizisten litten genauso unter der schlechten Ernährung wie die übrigen Bürger – was also hatten sie noch zu verlieren? Brotmangel, ein katastrophaler Krieg und Zorn auf die Unfähigkeit der Regierung hatten den Februaraufstand von 1917 ausgelöst. Warum wiederholte er sich nicht ein Vierteljahrhundert später?
    Die

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