Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
füttern. Zwei weitere Leichenräuber – ein Fabrikarbeiter und ein Tischler – wurden am folgenden Tag ebenfalls auf dem Serafimowskoje-Friedhof verhaftet; sie hatten beabsichtigt, ihre eigenen Kinder mit dem Inhalt ihrer Säcke am Leben zu erhalten. 31 Ein dreiundvierzigjähriger arbeitsloser Mann, seine Frau und ihr dreizehnjähriger Sohn wurden beim »systematischen Diebstahl« von Toten aus der Leichenhalle eines Krankenhauses ertappt, und eine vierundzwanzigjährige Krankenschwester fiel der Polizei auf, weil sie amputierte Gliedmaßen aus einem Operationssaal an sich gebracht hatte. 32
Leicht zugänglich waren auch die Leichen von verhungerten Kollegen oder Verwandten. Typisch für das kollektive Handeln, das diese Art von trupojedstwo häufig hervorbrachte, dürften mehrere Fälle im Januar und Februar gewesen sein. In der Erste-Mai-Fabrik teilte sich eine Gruppe von neun Männern, die alle im selben Wohnheim einquartiert waren, die Leiche eines Kollegen. 33 In der Lenin-Fabrik verzehrte eine Arbeiterin ihren elfjährigen toten Sohn mit zwei Freundinnen. Eine Putzfrau teilte sich die Leiche ihres Mannes mit ihrem arbeitslosen Nachbarn; der Elektriker und der stellvertretende Leiter eines öffentlichen Badehauses aßen den verhungerten Heizer der Einrichtung. 34 Drei Angehörige eines Zivilschutzteams, darunter ein Parteimitglied, teilten sich eine Leiche, die sie bei der Absicherung eines zerbombten Gebäudes entdeckt hatten. 35
Der Optiktechniker Dmitri Lasarew hinterließ einen Augenzeugenbericht über ein Angebot, sich einer derartigen Aktion anzuschließen:
Valentina Antonowna (eine Freundin von Nina [Lasarews Frau]) kam vorbei. Zitternd vor Emotionen, erzählte sie, wie eine Frau gestern hartnäckig versucht habe, sie in eine grässliche Angelegenheit hineinzuziehen. Früher am Tag waren mehrere Zivilschutzarbeiterinnen durch herabstürzende Balken zermalmt worden, während sie ein Gebäude auf der Krestowski-Insel abrissen. Ihre Leichen hatte man in einen leeren Schuppen neben der Wohnung gebracht, in der diese Frau allein einquartiert ist. Sie schlug Valentina Antonowna vor, die Leiche eines der Mädchen in ihre Wohnung zu schleppen, das Fleisch zuzubereiten, einen Teil davon zu essen und den Rest für die Zukunft einzusalzen. Sie sagte, sie habe Feuerholz, könne jedoch nicht alles ohne Hilfe schaffen. Als Ansporn nannte sie das Beispiel ihrer Schwester, die seit drei Wochen Menschenfleisch esse, wieder zu Kräften gekommen sei und sich viel gesünder fühle. Gebieterisch erklärte sie, sie wolle nichts von Zaudern hören, denn es sei eine Frage von Leben und Tod, und am folgenden Morgen werde sie erscheinen, damit die beiden sich gemeinsam an die Arbeit machen könnten.
Valentina Antonowna tat die ganze Nacht kein Auge zu. Einerseits weigerte sie sich empört, den Vorschlag auch nur zu erwägen, andererseits war sie beim Anblick ihres schlafenden erwachsenen Sohnes überzeugt, dass sie sich seinetwegen darauf einlassen solle. Aber dann stellte sie sich in allen konkreten Einzelheiten vor, was die Sache nach sich ziehen würde, und sprang auf: »Nein! Nur das nicht! Ich würde den Verstand verlieren!« Vor dem Morgen hatte sie sich erneut eingeredet, dass es kein Mord sei, dass die Mädchen ohnehin tot seien und dass, wenn sie den Vorschlag ablehne, ihr hoch gewachsener, breitschultriger Sohn verhungern werde. Damit schlief sie wieder ein, erwachte heute Morgen und wartete auf ihre Besucherin. Aber als die Frau auftauchte, weigerte Valentina Antonowna sich heftig, was sie selbst überraschte. Die Frau verschwand unter wütenden Flüchen. 36
Vierundsechzig Prozent der wegen »Benutzung von Menschenfleisch als Speise« Verhafteten waren Frauen, 44 Prozent arbeitslos oder »ohne feste Beschäftigung« und über 90 Prozent Analphabeten oder Grundschulabsolventen. Nicht mehr als 15 Prozent gehörten zu den »eingesessenen Einwohnern« von Leningrad, und nur 2 Prozent hatten Vorstrafen. 37 Mithin war der typische Leningrader »Kannibale« weder jemand wie Sweeney Todd, die britische Romanfigur des neunzehnten Jahrhunderts, die mit Menschenfleisch Geschäfte machte, noch der verrohte Barbar der sowjetischen Geschichtsschreibung. Es war vielmehr die ehrliche, einfache Arbeiterhausfrau aus der Provinz, die ihre Familie retten wollte.
Bemerkenswerterweise unternahmen die Leningrader medizinischen Behörden mindestens einen Versuch, diejenigen, die zum Verzehr von Menschenfleisch getrieben wurden, als
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