Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Wagen von Brotladen Nr. 318 her, der die neue Lieferung herbeibrachte. Am Abend des 7. Januar entdeckte man zwei Personen, die sich unter dem Ladentisch verbargen. Wie sich herausstellte, trugen sie Messer bei sich. Am selben Tag wurde Laden Nr. 20 am Prospekt Gasa ausgeraubt. Ähnliche Vorfälle spielten sich im Smolny-Bezirk und in anderen Distrikten ab. 8
Daraufhin postierte man mehr Polizisten vor den Läden, ließ die Lieferfahrzeuge unterschiedliche Routen einschlagen und rüstete sie mit Wächtern aus. 9
Eine der sehr wenigen Tagebuchschreiberinnen, die gestehen, von Lebensmitteldiebstählen profitiert zu haben, ist Jelena Kotschina. Ihr durch Ödeme aufgedunsener Mann Dima benutzte seit Mitte Dezember einen angespitzten Spazierstock, um damit Brote in einem unbeleuchteten Laden aufzuspießen. Einmal beobachtete ihn eine der ebenfalls Wartenden, folgte ihm auf die Straße und drohte, ihn anzuzeigen:
»Gib mir die Hälfte, oder ich mache Meldung«, flüsterte sie und packte ihn am Ärmel … Sie traten in einen Hauseingang, und Dima stieß der Frau das Brot mit den Worten ins Gesicht: »Hier, erstick daran!« Die Frau griff nach dem Brot, setzte sich auf die Stufe und stopfte es sich gierig in den Mund. Eine kurze Zeit lang sah Dima ihr schweigend zu. Dann setzte er sich neben sie und aß seine eigene Hälfte. So hockten sie da und kauten, einander hin und wieder beschimpfend, bis sie alles aufgegessen hatten.
Ein Sack Buchweizen, den sie Mitte Januar im Lebensmittelgeschäft einer Fabrik entwendeten, ermöglichte den Kotschins, wieder zuzunehmen. Sie verbargen es vor den Nachbarn, indem sie sich absichtlich nicht wuschen. Die Angestellten von Brotläden, schrieb Jelena zu ihrer Rechtfertigung, seien genauso unehrlich und »rund wie Kugeln«: »Für Brot bekommen sie alles, was sie haben wollen. Fast alle tragen, ohne die geringste Scham, Gold und teure Pelze. Manche arbeiten sogar in üppigen Zobel- und Robbenmänteln hinter dem Ladentisch.« 10
Morde zur Beschaffung von Nahrung oder Lebensmittelkarten häuften sich: In der ersten Jahreshälfte 1942 wurden 1216 Menschen aus diesem Grund verhaftet. 11 Viele Leningrader hatten Angst, in einsamen Straßen von Fremden angegriffen zu werden, doch in den vom NKWD genannten Fällen war eher die Rede von Personen, die Familienmitglieder, Kollegen und Nachbarn töteten. Oftmals waren sowohl Täter als auch Opfer unterprivilegierte Jugendliche. Ein typisches Beispiel ist das eines Achtzehnjährigen, der seine beiden jüngeren Brüder mit einer Axt umbrachte. Er wurde verhaftet, bevor er auch seine Mutter ermordete. Nachdem er bei einem Gelegenheitsdiebstahl erwischt worden sei, erklärte er im Verhör, habe er seine Stelle und damit auch seine Arbeiterrationskarte verloren; daraufhin habe er beabsichtigt, die Coupons seiner Brüder zu benutzen. Zwei weitere Jugendliche, achtzehn und fünfzehn Jahre alt, verletzten ihre Nachbarinnen, eine Mutter und deren sechsjährige Tochter, schwer und wurden verhaftet, als sie die Karten der Opfer gegen Brot eintauschen wollten. Ein sechzehnjähriger Maschinenarbeiter wurde in seinem Wohnheim von einem Kollegen ermordet, nachdem er damit geprahlt hatte, Lebensmittelabschnitte für mehrere Tage eingelöst zu haben. 12
Weitere Verbrechen konnten wahrscheinlich nicht dokumentiert werden, weil im tiefsten Winter nur noch ein Teil der Miliz ihre Funktionen ausübte. Am 10. Februar bat der Leningrader NKWD-Chef P.N. Kubatkin seine Vorgesetzten in Moskau, ihm tausend weitere Männer zur Bewachung der städtischen Fabriken zuzuteilen. Von den 2800 Mitgliedern seiner Brigade seien 152 an »Erschöpfung« gestorben, 1080 lägen im Krankenhaus und mindestens 100 würden sich jeden Tag krankmelden. 13 Die Pawlowsker Museumsdirektorin Anna Selenowa, zu deren Aufgaben es gehörte, in Privatbesitz befindliche Antiquitäten offiziell zu verwahren, verließ einmal die Wohnung eines (angeblich dankbaren) Sammlers und fand den Polizisten, der sie begleitet hatte, tot auf einem Stuhl im Treppenhaus vor. 14 Auch gibt es Anhaltspunkte für verbreitete Korruption und Schnelljustiz. »Wenn man entdeckte, dass Brot gestohlen worden war«, erinnerte sich ein nach dem Krieg Ausgewanderter, »trieb man fünf Leute zusammen und erschoss sie, gleichgültig ob sie etwas mit dem Diebstahl zu tun hatten oder nicht.« 15
Im Großen und Ganzen vermitteln die Überlebenden des ersten Belagerungswinters jedoch den Eindruck, dass sich die Bürger weniger vor
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