Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
Vom Netzwerk:
Nationalsozialisten hatten eigentlich damit gerechnet. Ihre Zuversicht, dass die Nachricht vom Einmarsch einen sofortigen antibolschewistischen Volksaufstand entfachen würde, hielt noch eine Weile an. Vor allem überschätzten sie die Bedeutung des russischen Antisemitismus beträchtlich, und die kleinsten Anzeichen dafür standen ganz oben in den Berichten der Nachrichtendienste, die SS und Wehrmacht über die Bedingungen in »Petersburg« erhielten. Erstaunlich ungeschickt war auch die russischsprachige Propaganda der Deutschen, die gleichzeitig die »jüdisch-stalinistische« Sowjetregierung anprangerte und mit der Unbesiegbarkeit und Gnadenlosigkeit der Wehrmacht prahlte (»Aufgefressen sind die Linsen – Leningrad geht in die Binsen«; »Wir bombardieren heute, ihr sterbt morgen«). 1 Der militärische Geheimdienst korrigierte sich im Herbst, indem er einräumte, dass die »jüdische Frage« zwar zunehmend aktiv von Leningradern diskutiert werde, dass es aber keine Hinweise auf einen organisierten Widerstand gegen die kommunistischen Behörden gebe. Über der Stadt abgeworfene Flugblätter würden nicht von Hand zu Hand weitergereicht, sondern für den künftigen Gebrauch versteckt, falls Leningrad aufgegeben wurde. Zwölf Tage später hieß es in einem weiteren Bericht, die öffentliche Stimmung sei fieberhaft und besorgt, doch die rote Regierung habe die Bevölkerung, mit Hilfe von Terror und heftiger Propaganda, in der Hand und ein organisierter Aufstand sei nicht zu erwarten. 2
    Der SS-Sicherheitsdienst (SD) dagegen klammerte sich länger an sein Wunschdenken und gab jedes finstere Gerücht und jede antisemitische Anekdote weiter. (In einer weigerten sich russische Kriegsgefangene laut dem SD, deutschen Befehlen zu gehorchen und jüdische Gefangene lebendig zu begraben. Daraufhin hätten die deutschen Soldaten die Juden aufgefordert, den Russen das Gleiche anzutun, und die Juden hätten, »ohne zu zögern«, zu ihren Schaufeln gegriffen. So seien die Deutschen fähig gewesen, den russischen Kriegsgefangenen den »wahren Charakter des Judaismus« vorzuführen. 3 ) Mitten im Winter sahen beide Dienste jedoch ein, dass der russische Widerstand durch die Rücksichtslosigkeit der deutschen Besatzung verstärkt wurde. Deserteure hätten früher zwischen Nationalsozialisten und deutschen Regimegegnern unterschieden, doch nun bezeichneten sie sämtliche Deutsche als Barbaren, die man vernichten müsse. 4 Im Mai 1942, als man Nachrichten über Leningrad in Berichte über die besetzten Gebiete im Allgemeinen einbezog, war jegliche Hoffnung auf einen Aufstand verflogen.
    Allerdings irrten die Deutschen nicht, wenn sie eine wütende Bevölkerung in Leningrad vermuteten. Die öffentliche Meinung zu ermessen ist schwierig, doch aus den Tagebüchern geht hervor, dass die Leningrader genauso über die Inkompetenz, Gefühllosigkeit, Heuchelei und Unehrlichkeit ihrer eigenen Funktionäre klagten wie über den fernen, unpersönlichen Feind. Die besten Indizien für das, was gewöhnliche Bürger über ihre Regierung dachten, sind paradoxerweise in den offiziellen Unterlagen zu finden. Im Gegensatz zu anderen Diktatoren machten Stalin und seine Statthalter nie den Fehler, zu glauben, sie würden geliebt – vielmehr witterten sie ein Komplott an jeder Ecke. Von dieser Paranoia abgesehen, waren die Berichte, die Schdanow alle paar Tage vom Chef der »Anleiterabteilung« des städtischen Parteikomitees erhielt, bemerkenswert komplex; in ihnen wurden belauschte Gesprächsfetzen zu recht abgerundeten Zusammenfassungen der Probleme der Leningrader verarbeitet. Man verzeichnete Alter, Geschlecht, Volkszugehörigkeit, sozioökonomischen Status jedes aufmüpfigen Sprechers, übermittelte dem NKWD die Details jedoch nur, wenn es sich um eine offenkundig politische Kritik handelte. Militärzensoren, die Privatbriefe an die Front abfingen, behielten den Anteil im Auge, der »negative Mitteilungen« enthielt (er stieg von sechs bis sieben Prozent Anfang Januar 1942 auf zwanzig Prozent am Monatsende). 5 Schreiben von Mitgliedern der Bevölkerung direkt an Schdanow wurden auf ähnliche Art nach Themen geordnet, wonach man die Gesamtzahl für jede Kategorie monatlich berechnete. 6 Zwar blieben die Befehle, die Schdanow als Reaktion auf diese Datenmasse erteilte, oft unausgeführt, doch er war stets auf dem Laufenden.
    Die Unterstützung der Behörden stieg und fiel im Einklang mit der Größe der Rationen und dem Fortschritt an der Front.

Weitere Kostenlose Bücher