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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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keiner Weise gekennzeichnet oder etikettiert – sie waren anonym, niemand schrieb etwas nieder. Wir trugen die Leichen hinaus in den Hof, wo sie auf Lastwagen geladen und dann fortgebracht wurden … Und am 3. Februar sah ich, dass die Türen aller Zellen auf dem Gefängnisflur offen standen. Es gab niemanden mehr, den man einschließen konnte. 11
    Diese Darstellung stimmt mit einem Bericht des städtischen Statistikdienstes über die Gesamtzahl der Toten in Leningrader Gefängnissen überein. Sie stieg von null im März 1941 auf 1172 im Dezember, schnellte im Januar 1942 auf 3739 hoch und lag bei über 2000 in jedem der folgenden vier Monate. 12 Häftlinge wurden auch zur Arbeit an der Eisstraße und in Gulag-Unternehmen innerhalb des Belagerungsrings gezwungen, zum Beispiel in einem Holzfällerlager, einer Schweinefarm und einem Kraftwerk sowie in Munitions-, Chemie- und Kabelfabriken. Auch dort waren ihre Überlebenschancen gering, denn am 31. Dezember bat das NKWD Nachschubkommissar Dmitri Pawlow, die Brotration für die 3578 Insassen seiner Arbeitslager von 250 Gramm pro Tag auf die für Handarbeiter üblichen 350 Gramm anzuheben, da das bestehende System rasch zu »Erschöpfung« und »Arbeitsuntauglichkeit« führe. 13
    Mit dem Tod im Gefängnis oder in einem Arbeitslager endete wahrscheinlich auch das Schicksal des Straßenbahnangestellten Iwan Schilinski. Einundfünfzig Jahre alt, anständig, intelligent, einfallsreich und patriotisch, ist er typisch für Tausende von gewöhnlichen Leningradern, die während der Belagerung nicht dem Feind, sondern ihrer eigenen Regierung zum Opfer fielen. In der Mitte des Winters waren seine Frau Olga und er durch Ödeme angeschwollen und gingen am Stock; sie überlebten nur dadurch, dass sie von einem Tag zum anderen ihre Brotration durch Hustentropfen, Glyzerin, Rizinusöl, Tapetenkleber und Tischlerleim ergänzten. Dazu tranken sie heißes Wasser, gewürzt mit Orangenschale, Senfpulver, Schwarzen Johannisbeerzweigen oder Salz. Um ihre kalten Zimmer zu beleuchten, verbrannten sie Holzspäne. Wie Winokurow könnte auch Schilinski die Beziehung zur Fotografie zum Verderben geworden sein. Nachdem die Straßenbahnen nicht mehr fuhren, hatte er seinen Vorkriegsposten aufgeben müssen. Als dann auch die ihm versprochene Bezahlung (eine Lieferung Feuerholz) an einer anderen Arbeitsstelle ausgeblieben war, betätigte er sich als Passfotograf für Evakuierungskandidaten. Dazu richtete er ein provisorisches Studio in demselben Raum ein, in dem seine tote Mutter, aufgebahrt in ihrer besten Kleidung und mit einer Ikone neben dem Kopf, hinter einem Schrank und einem Klavier versteckt war. Der Plan war erfolgreich und brachte ihm 100 Gramm Brot pro Bild ein, doch er kam zu spät für Olga, die am 20. März einschlief. »Mit Olgas Tod«, schrieb Schilinski, »setzte das Frühjahrstauwetter ein, von dem sie den ganzen Winter geträumt hatte.« Auch erlebte sie nicht mehr, dass ein Stapel Briefe und Geldanweisungen von evakuierten Verwandten eintraf, von denen das Paar sich verlassen und vergessen gewähnt hatte.
    Schilinski wurde eine Woche später ohne Warnung verhaftet, möglicherweise nachdem ihn feindselige Nachbarn angezeigt hatten. Wieder stürzte sich die Miliz auf sein Tagebuch, in dem seine recht scharfsinnigen Vorhersagen für den Krieg zu finden waren. Seiner Meinung nach hatten die Deutschen den Fehler gemacht, ähnlich wie in Polen einen Spaziergang, diesmal bis zum Ural, zu erwarten. Denn die Russen, obwohl von Natur aus nicht bolschewistisch eingestellt, hegten einen historischen Hass auf Angreifer und hatten etliche Vorteile: unbegrenzten Raum, eine besondere Psyche – »er ist ein Narr, aber er ist unser Narr!« – und die Fähigkeit, sich mit Entbehrungen abzufinden. Die Alliierten würden der Sowjetunion gerade genug Hilfe zukommen lassen, damit sie weiterkämpfen könne, doch nicht genug, um ihr eine große Gegenoffensive zu ermöglichen. Nach dem Krieg würden sie Leningrad in einen »internationalen Hafen« umwandeln und Druck auf die UdSSR ausüben, damit Rede- und Religionsfreiheit im Wortsinne zugelassen würden: »Aber unsere Leute werden sich natürlich genauso lange hin und her winden, bis Amerika und England zurückweichen und uns in unserem eigenen Saft schmoren lassen … Am Ende werden wir wieder mit unserer Komintern allein sein, während die übrige Welt demokratisch, parlamentarisch und kapitalistisch, wie wir die andere Seite zu nennen gewohnt sind,

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