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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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bleibt.« 14 Auf der Grundlage dieser Kommentare wurde Schilinski wegen »Verleumdung der Sowjetrealität« angeklagt und zum Tode (später in zehn Jahre Haft umgewandelt) verurteilt.
    Das vielleicht aufschlussreichste Dokument in der Akte der Staatsanwaltschaft ist eine Liste von Schilinskis Wohnungsinhalt. »Das Mobiliar«, schrieb ein Ermittler, »besteht aus zwei Schränken, zwei Metallbetten, einem mit kariertem Stoff überzogenen Sofa, einem Klavier, einem Tisch, fünf Stühlen, einem vernickelten Samowar, einer handbetriebenen Nähmaschine, einer Lampe, einem Grammofon der Marke Rote Garde und einer runden Wanduhr.« Das Holzgebäude, in dem seine Frau Olga und er wohnten, ist heute längst verschwunden. An dem einen Ende der Straße befindet sich ein Einkaufszentrum, an dem anderen ein Autohaus, vor dem glänzende Kühlerhauben diagonal auf dem glänzenden neuen Asphalt aufgereiht sind. Weniger verändert hat sich, einen Block weiter nördlich, der Serafimowskoje-Friedhof. Durch sein in Grün gebettetes Durcheinander von Grabsteinen schiebt sich ein stiller Strom von Spaziergängern, Blumenverkäuferinnen und alten Frauen mit Reisigbesen. Ein heruntergekommenes Denkmal aus der Breschnewzeit jenseits des Haupttors ist den Hungertoten gewidmet, doch das eigentliche Massengrab – ein Streifen unebenen Geländes an der Grenze zwischen dem Friedhof und einem Holzplatz – hat man sich selbst überlassen. Für Menschen wie Schilinski, die unschuldigen Opfer nicht des Krieges, sondern des Terrors, ist kein Monument zu entdecken.

 
    18
    Fleischwald
    Für die übrige Welt spielte sich die Tragödie Leningrads weitgehend nach dem Motto »Aus den Augen, aus dem Sinn« ab. Sobald die unmittelbare Gefahr für die Stadt zurückgewichen war, wandten sich die Alliierten zuerst der Schlacht um Moskau und dann einer Vielzahl von Niederlagen im Fernen Osten und anderswo zu. Der erste Monat der Leningrader Massentode – Dezember 1941 – fiel mit der Einnahme von Hongkong zusammen, der zweite mit schweren Verlusten der Atlantikschifffahrt durch deutsche U-Boote, der dritte damit, dass Japan nicht nur Singapur eroberte, sondern auch 70000 britische und Commonwealth-Soldaten gefangen nahm. Was die Sowjetunion anging, so beabsichtigten Großbritannien und die USA, sie vom Kollaps und der Schließung eines Separatfriedens abzuhalten, wobei sie den immer aufdringlicheren Rufen Stalins – und der britischen Linken – nach einer zweiten Front standhielten. Der erste Arktis-Konvoi mit Panzern, Hurricane-Jagdflugzeugen und anderem Militärbedarf, ermöglicht durch das Leih-Pacht-Abkommen, traf Ende August in Archangelsk ein und markierte den Auftakt zu vier langen Jahren bitterer diplomatischer Auseinandersetzungen. »Die Sowjetregierung stand unter dem Eindruck«, schrieb Churchill später, »daß sie uns großes Wohlwollen damit bewies, daß sie im eigenen Land um ihr Dasein kämpfte.« 2
    Überall an der Ostfront kam die Wehrmacht im Januar 1942 zum Stillstand. Zuweilen machen sich spätere Beobchter lustig über den Hang der nationalsozialistischen Generale, in der Nachkriegszeit die Schuld für die Niederlage im Osten beim Wetter, bei den Straßen oder bei Hitlers Schikanen zu suchen – überhaupt bei allem anderen als ihren eigenen Fehlern oder den überlegenen Fähigkeiten der Russen auf dem Schlachtfeld. Dies ist jedoch unfair, denn sogar nach russischen Maßstäben war der Winter 1941/42 außerordentlich kalt, und er hatte schwere Folgen für die deutschen Streitkräfte, besonders für die der Heeresgruppe Nord. Der plötzliche Temperatursturz sei, wie Hitler am 12. Januar beim Essen in der Wolfsschanze beklagte, eine unvorhergesehene Katastrophe, die sämtliche Gewehre, Maschinengewehre und Feldgeschütze auf deutscher Seite ausgeschaltet habe. 3 Flugzeuge konnten nicht starten, Panzer- und Lastwagenmotoren sprangen nicht an, und Pferde stapften durch bauchhohen Schnee, weshalb Soldaten tagsüber einen Pfad an der Route freischaufeln mussten, die ihre Fahrzeuge bei Nacht einschlagen sollten. Die Deutschen stahlen Kleidung und Bettwäsche von russischen Bauern (in sowjetischen Karikaturen wurden sie als »Winterfritzen«, bekleidet mit Schals und Rüschenunterhosen, verspottet) oder litten unter Frostbeulen und Erfrierungen. Die spanische »Blaue Division«, die Franco zur Unterstützung für den Krieg gegen den Kommunismus entsandt hatte, habe ihren Namen, höhnte die Presse, nicht von der Farbe ihrer Hemden, sondern

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