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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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innerhalb des Leningrader Blockaderings desertierten Soldaten nicht nur, schossen sich selbst in Hände oder Füße oder begingen in erheblicher Zahl Selbstmord, sondern starben auch an Hunger. Neben der Blockade selbst waren dafür Desorganisation, Diebstahl und Korruption verantwortlich. Zwar reichte die Militärverpflegung – mindestens 500 Gramm Brot und 125 Gramm Fleisch für einen Frontsoldaten, 300 Gramm Brot und 50 Gramm Fleisch in der Etappe 6 – theoretisch zum Überleben, doch in der Praxis erhielten viele Männer weit weniger. 7
    Einer von ihnen war Semjon Putjakow, ein sechsunddreißigjähriger Infanterist, den man an einem Flugplatz in einem ruhigen Abschnitt der finnischen Front, knapp nordwestlich von Leningrad, stationiert hatte. Seit seiner Einberufung schrieb er in seinem Tagebuch eine lange Reihe von Klagen nieder: über den Mangel an Ausbildung, über »ins Museum gehörende« Gewehre, über seinen Leutnant (»so blöde, dass sogar die ungebildetsten Soldaten über seine Befehle staunen«) und über die Grobheit der höheren Offiziere sowie deren Gebrauch von Militärfahrzeugen zur Beförderung ihrer Freundinnen. Anfang Dezember bemerkte er, dass die Offiziere dem Kantinenpersonal befahlen, die Rationen für sechs Soldaten auf acht zu verteilen, und daraufhin den Überschuss für sich selbst verwendeten. Am Ende des Monats wurde er ständig von Hunger gequält und geriet in Schwierigkeiten, weil er unangenehme Fragen stellte:
    Gestern erkundigte ich mich während des Mittagessens bei einem der politischen Mitarbeiter, warum wir nicht unsere vollständigen Portionen bekämen. Ich hielt ihn für einen gerechten Mann, der wollte, dass die uneingeschränkte Norm unseren Magen erreichte. Aber er begann zu brüllen, dass es nicht den Vorschriften entspreche, wenn wir die Normen überprüften. Also fragte ich, wo die Vorschriften festlegen, dass sie uns weniger geben könnten, als uns zusteht. Danach geriet er außer sich. Ich muss seinen Familiennamen ermitteln. Seine hässliche Fratze sieht gesünder aus, als es der Fall sein sollte. 8
    Er feierte Silvester, indem er sich rasierte, ein Foto seiner Frau und seiner Kinder betrachtete und sich Mahlzeiten von früheren Familienzusammenkünften in Erinnerung rief. Am 8. Januar konnte er kaum noch gehen: »Nagte während des Holzfällens an Pferdeknochen. Hunger, Hunger. Mein gedunsenes Gesicht schwillt nicht ab. Sie sagen, dass die Rationen erhöht werden sollen, aber ich glaube es nicht … Weiß der Teufel, was ich schreibe und wofür.« Wütend schimpft er über den Feldwebel und den Leutnant seines Zuges, die beide korrupt seien: »Sie sind keine Männer, sondern Tiere in Menschengestalt.« Andere Soldaten der Einheit waren bereits vor Hunger gestorben – »abscheuliche Hungertode … es wäre besser, in der Schlacht gegen die Faschisten zu fallen«. Ein paar Tage nachdem er versucht hatte, sich offiziell bei einem Militärarzt zu beschweren, wurde er verhaftet. Man bezichtigte ihn, »Enttäuschung über die Lebensmittelversorgung der Roten Armee ausgedrückt« zu haben, und richtete ihn am 13. März 1942 hin.
    Die Gesamtzahl der Hungertode in den Leningrader Armeen ist unmöglich zu schätzen, doch Putjakows Erfahrung war kein Einzelfall. Soldaten erzählten ähnliche Geschichten in ihren Briefen nach Hause. »Wir haben schrecklichen Hunger«, schrieb einer. »Wir wollen nicht an Hunger zugrunde gehen. Einige Genossen sind bereits ins Krankenhaus geschickt worden. Manche sind gestorben. Was wird geschehen? Welchen Nutzen haben Todesfälle wie diese für das Vaterland?« – »Wir werden jeden Tag schwächer«, schrieb ein anderer. »Wir bekommen kein Fleisch oder Fett und nur 300 Gramm Brot. In der Suppe ist kein einziges Korn, keine Kartoffel, kein Kohl – es ist bloß trübes Salzwasser … Wir sind stark abgemagert und sehen aus wie Schatten. Wir nagen an Leinsamenkuchen, die statt Hafer an die Pferde verfüttert werden. Und wir füllen uns mit Wasser.« Ein Dritter hatte »genug vom Leben. Entweder werde ich verhungern oder mich erschießen. Ich halte es nicht mehr aus.« 9 Wassili Tschurkin, mit seiner Geschützbatterie an der Front südlich von Ladoga, klagte darüber, dass manche seiner Kameraden vor Schwäche kaum noch stehen könnten, doch dass ein fauler Politruk sie zwinge, an jedem Haltepunkt einen besonders bequemen Bunker für ihn zu bauen, während sie selbst draußen im Schnee schliefen. Der Mann sei »ganz und gar untauglich –

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