Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
er werde sich den Deutschen gegenüber als Armenier ausgeben). Man zwang Gukowski, drei Kollegen zu denunzieren, von denen einer später im Gefängnis starb. Lichatschow, der selbst bereits fünf Jahre auf den Solowki-Inseln verbracht hatte, erlaubte sich kein Urteil darüber. »Damals«, schrieb er später,
galt ein Gespräch zwischen zwei Personen darüber, was sie tun oder wo sie sich verstecken würden, wenn die Deutschen die Stadt einnahmen, fast als Verrat. Deshalb dachte ich nicht daran, Gukowski die geringsten Vorwürfe zu machen, genauso wenig wie den zahlreichen anderen, die unter Zwang ihre Unterschrift unter alles setzten, was die Vernehmer-Folterer ihnen vorlegten … Es war Gukowskis erste Verhaftung, und er wusste offensichtlich nicht, dass man sich entweder weigern muss, die Fragen des Vernehmers zu beantworten, oder so wenig wie möglich äußern sollte. 7
Marxena Karpizkaja, als Tochter eines »Volksfeindes« bereits seit Langem mit NKWD-Vernehmungszimmern vertraut, wurde ins Große Haus geladen und aufgefordert, sich der Denunziation eines Kollegen in der Öffentlichen Bibliothek anzuschließen, eines alten ehemaligen Offiziers der Zarenarmee, der Handlangerdienste für das Personal leistete, um sich aufwärmen zu können und Gesellschaft um sich zu haben. Als sie ablehnte, höhnte der NKWD-Mann, von jemandem mit ihrer Herkunft sei nichts anderes zu erwarten gewesen. Zu ihrer eigenen Überraschung »explodierte [sie] vor Wut«
und erwiderte, niemand habe bisher beweisen können, dass meine Eltern Volksfeinde seien, deshalb stellten seine Worte selbst ein Verbrechen dar … Nur die Torheit der Jugend hätte mich bewegen können, so mutig zu sein! Er sprang auf mich zu, als wolle er mich schlagen … Ich stand auf und packte meinen Hocker, um mich zu verteidigen … Er beruhigte sich wieder, nahm an seinem Schreibtisch Platz und verlangte meine Papiere.
Obwohl Karpizkaja eine NKWD-Order erhielt, Leningrad zu verlassen, konnte sie der Deportation mit Hilfe ihrer Chefin entgehen, die das Mädchen in ihrem eigenen Büro unterbrachte und sie für den Rest des Krieges vor den Behörden versteckte. 8
Der Geografielehrer Alexej Winokurow machte die Sicherheitsdienste auf sich aufmerksam, als er Kaufanzeigen für Landschaftsfotos des Urals und Sibiriens aufgab. Wegen einer gekritzelten Notiz auf einem seiner Plakate wurde er in eine Wohnung am Newski-Prospekt eingeladen. Dort übergab man ihn prompt einem Milizleutnant, der ihn zum Großen Haus eskortierte. »Es war langweilig beim NKWD«, vertraute er seinem Tagebuch an. »Das Personal in jener Einrichtung weckt Erstaunen durch seinen Stumpfsinn. Das dumme Verhörverfahren zog sich ungefähr drei Stunden hin. Mit Mühe schrieb der Leutnant das Protokoll nieder, das ich ihm praktisch diktieren musste.« Diese Sätze gehörten zu denen, die sein Vernehmer ein Jahr später unterstrich, nachdem man seine Wohnung durchsucht und das Tagebuch konfisziert hatte. Hervorgehoben wurden auch Hinweise darauf, dass Winokurow Leichen von der Ladefläche eines Lastwagens hatte fallen sehen und dass ausgemergelte Soldaten auf dem Newski ihre Kolonne verlassen hatten, um Tabak gegen Brot einzutauschen. Außerdem hatte er die »sinnlosen« Berichte des Sowinform-Büro kritisiert und die Deutschen als Europäer bezeichnet. All das, verbunden mit einer Andeutung, dass er zu Verwandten in der von der Wehrmacht besetzten Stadt Staraja Russa ziehen wolle, wurde ihm zum Verhängnis. Am 16. März 1943 verurteilte man ihn wegen »konterrevolutionärer Agitation« unter den Schülern und Lehrern seiner Schule und richtete ihn drei Tage später hin. 9 Schlauer verhielt sich Alexander Boldyrew, dessen Tagebuchhinweise auf einen »dummen« englischen Roman – mit dem Titel Two Trips to the Big House – als Code für Vernehmungen dienten. 10
Die Exekutionen könnten letztlich ein vergleichweise barmherziges Ende gewesen sein, denn folgt man den Quellen, starb die große Mehrheit der in Leningrad Inhaftierten während des ersten Belagerungswinters an Hunger. Ein Insasse des Kresty-Gefängnisses, eines riesigen neobyzantinischen roten Ziegelgebäudes neben dem Finnischen Bahnhof, war mit der Aufgabe betraut, Leichen aus den Zellen zu entfernen; zwischen dem 16. Oktober und dem 2. Februar zählte er 1853 Tote:
Täglich holten wir fünfundzwanzig bis vierzig Verstorbene heraus. Das Innere ihrer Kleidung war mit einer sich bewegenden Läusekruste bedeckt. Diese Menschen wurden in
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