Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
ihrer Gesichter.
Fritz Hockenjos’ Fahrradzug – nun in der Umschulung zu einer Skijägereinheit – war in das Örtchen Swanka am Westufer des Wolchow versetzt worden. Als Quartier diente ein verlassenes Kloster auf dem früheren Gut von Gawriil Derschawin, dem Hofdichter Katharinas der Großen. Von dem Beobachtungsposten an der Spitze eines Glockenturms zogen sich schneebedeckte Wälder und Heideflächen in alle Richtungen bis zum Horizont, unterbrochen nur von dem breiten Band des gefrorenen Flusses, einer Reihe von Telegrafenmasten an der Eisenbahnlinie Moskau–Leningrad und den Flugzeugen, die auf einer fernen russischen Rollbahn starteten oder landeten. Am anderen Ufer des Flusses lag die gerade von den Russen neu zusammengestellte 2. Stoßarmee, die jeden Tag angreifen konnte. Dahinter wanderten die Reste von Einheiten, die in den jüngsten Kämpfen zerschlagen worden waren, durch die mit Frost überzogenen Wälder. Hockenjos schrieb:
Täglich sind wir Zeugen, Zuschauer und Mitspieler des grausamen Dramas, das sich in diesen Wochen in den weißen Wäldern … abspielt: ein Regiment Russen geht zugrunde … Das Waldgefecht vom 30. Dezember war wohl der letzte Verzweiflungskampf; unter den Toten befand sich auch der russische Regimentskommandeur. Die Übriggebliebenen haben längst die Waffen von sich geworfen und das letzte Stück Hartbrot gegessen; nun irren sie kreuz und quer durch die Wälder wie Tiere, die von ihrer Herde getrennt sind, und wie Tiere dumpf und stumpf. Sie denken nicht mehr daran, auszubrechen, obwohl unsere Linie dünn genug ist. Sie denken auch nicht daran, sich zu ergeben. Sie laufen und laufen, um den Hunger zu betäuben und der Kälte zu entgehen. Der Wald ist voll von ihren Spuren. Keine Streife, die nicht täglich auf sie stößt und einige von ihnen abschießt. Einer meiner Streifen geschah es in einer eisigen Mondnacht, daß sie plötzlich neben sich her, dreißig Schritt seitwärts vom Weg, eine lange Reihe von Schatten lautlos traben sah. Sie schoß hinein, was die Läufe hergaben, einige fielen in den Schnee, die andern trabten lautlos weiter, die Richtung nur ein wenig mehr nach dem Waldinnern nehmend … Was der Kugel entgeht, fällt durch Hunger und Kälte, einer nach dem andern. Sie verkriechen sich im Gestrüpp, um zusammengekrümmt zu verenden. Einige irren am hellen Tag an den Waldrändern umher, einige kommen bei unserm Gefechtsstand auf den Posten zu, als sähen sie ihn nicht; kaum vermögen sie mehr die schwarzerfrorenen Hände zu heben oder die Lippen zu bewegen, Blut sickert aus den aufgeplatzten Gesichtern. Die Kugel ist eine Gnade für sie.
Einige Male geschieht bei uns folgendes: Der Posten ruft in den Bunker herunter: »’s ischt wieder oiner do!« – Worauf der Obergefreite K. herumfragt: »Wer von de Neie het no koine Filzstiefel?« – Es melden sich ein paar von den Neuen, und K. sagt: »Karle, gang mit em hente nom!« – Der Karle zwängt sich von der Pritsche, nimmt das Gewehr und geht hinaus. Es fällt ein Schuß, und der Karle kommt herein mit ein Paar Filzstiefeln unterm Arm.
Hockenjos und seine Männer entkleideten auch gefrorene russische Leichen: »Die Filzstiefel müssen wir leider aufschneiden, um sie von den starren Füßen zu kriegen, aber man kann sie wieder zusammennähen. So weit wie die vom Zweiten Bataillon sind wir noch nicht, die den toten Russen die Beine abschlagen und auf dem Bunkerofen auftauen.« Im Februar, notierte er mit einem gewissen Stolz, hatten sie sich in »echte Frontschweine« verwandelt. Ungewaschen und bärtig, hatten sie gelernt, ihre gefütterten Baumwollhosen über ihren zusammengenähten Filzstiefeln zu tragen, damit kein Schnee eindrang, und die Mäntel am Kragen nicht zuzuknöpfen, um rasch nach Handgranaten greifen zu können. Unter den Helmen waren ihre Köpfe mit Wollschals umhüllt, und ihre Nasen verklebten sie »zum Schutz gegen Erfrieren mit Leukoplast«. Manchmal waren die Landser nur noch durch ihre EK-Bändchen von den Russen zu unterscheiden. »Wie deutsche Soldaten sehen wir jedenfalls alle nicht mehr aus«, gab Hockenjos zu. 4
Die Entbehrungen, welche die Belagerer Leningrads durchmachten, waren jedoch kaum der Rede wert, verglichen mit denen der Verteidiger. Eine der am wenigsten bekannten Enthüllungen aus den Archiven betrifft den Hunger innerhalb der Roten Armee. Das Brot der dürftigen Rationen »ähnelte Asphalt«, und die Buchweizengrütze wurde als »Schrapnell« bezeichnet. 5 Doch
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