Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Die Schülerin Klara Rachman hörte die Rede im Radio ihrer Familie: »Er sagt, dass die ganze Geschichte nur noch ein paar Tage dauern wird; bald soll alles besser sein. Aber wann? Wahrscheinlich, wenn wir schon ins Gras gebissen haben.« Gerüchte gingen um, Popkow sei wegen Sabotage verhaftet worden; man werde Leningrad zur »offenen Stadt« erklären; Stalin führe geheime Friedensverhandlungen oder sei nicht mehr an der Stadt interessiert, da er sie nach Kriegsende Großbritannien und Amerika aushändigen wolle. 17
Popkows Scheinheiligkeit verleitete manche zu Drohungen. »Er wird vernünftig reden«, sagte ein Theaterangestellter, »wenn wir die Läden kurz und klein schlagen.« Eine Hausfrau kommentierte: »Seht, wozu unsere Führer uns getrieben haben – Menschen töten und essen ihre Kinder. Und wir Dummköpfe sitzen da und schweigen. Wir müssen uns aufbäumen, wenn wir nicht alle verhungern wollen. Es ist Zeit, diesen Krieg zu beenden.« 18 Gleichwohl gibt es nur zwei Berichte über Demonstrationen gegen die Regierung. Die erste, die in einem deutschen Geheimdienstbericht beschrieben wird, soll Mitte Oktober 1941 in den Kirow-Werken stattgefunden haben. Auf die Nachricht hin, dass ein Regiment aus Kirow-Werktätigen an der finnischen Front vernichtet worden sei, legte das Personal angeblich die Arbeit nieder und rief nach Frieden. NKWD-Soldaten hätten in die Menge gefeuert, zahlreiche Demonstranten getötet und die Rädelsführer in Lastwagen fortgebracht. 19
Der zweite Bericht stammt aus den Erinnerungen, die Wassili Jerschow, ein früherer Nachschuboffizier der Roten Armee, in der Emigration zu Papier brachte. Er ging am Morgen des 7. November 1941, des Tages der Revolution, am Prospekt Statschek entlang, der Hauptverkehrsstraße, die vom Industriebezirk Awtowo nach Süden zur Front führte. Da sah er mehrere hundert zehn- bis vierzehnjährige Kinder, die auf einen Armeekontrollpunkt zumarschierten. Unter ihren Mänteln holten sie Bündel von Flugblättern hervor, auf denen zur Rebellion aufgerufen wurde: »Vor vierundzwanzig Jahren habt ihr das Zarentum zerstört! Bitte zerstört nun die verhassten Henker im Kreml und im Smolny!« Diese Blätter reichten sie den Soldaten über die Schranke hinweg. Ein Kommissar befahl den Rotarmisten, das Feuer zu eröffnen, und als sie sich weigerten, schoss er selbst. Im selben Moment begann ein deutsches Artilleriesperrfeuer, und die Kinder zerstreuten sich. Zwanzig von ihnen wurden verhaftet, zusammen mit den Soldaten, die den Befehl verweigert hatten, sowie mit mehreren Dutzend ihrer Verwandten. 20
Da bisher kein Hinweis auf die beiden Vorfälle in den (nur unvollständig einsehbaren) Partei- und Sicherheitsdienstarchiven zu finden ist, könnten sie auch erfunden sein. Der Informant der Deutschen plante möglicherweise, seine Auftraggeber in gute Laune zu versetzen; Jerschow mag übertrieben haben, um seine Chancen auf die Verleihung der amerikanischen Staatsbürgerschaft zu erhöhen, oder vielleicht gab er auch nur Gerüchte wieder. Allerdings zirkulierten tatsächlich Flugblätter, in denen die Leningrader zum Aufstand aufgerufen wurden. Eines davon – jemand hatte es in die blau gestrichenen Metallbriefkästen am Eingang eines Wohngebäudes auf der Wassiljewski-Insel gestopft – lud die Leser am 22. Januar um 10 Uhr zu einer »Hungerdemonstration« auf dem Palastplatz ein, von wo sie »zu unseren Kämpfern voranschreiten und diese bitten« sollten, »den unsinnigen Widerstand aufzugeben«. Die Soldaten würden nicht feuern, denn sie seien doch »unsere Väter, Brüder, Söhne«, und man brauche keine Angst vor dem »wertlosen NKWD« zu haben, da es nicht »die Kraft« besitze, die hungrigen Massen zurückzuhalten. Jeder Leser solle weitere zehn Abschriften des Pamphlets anfertigen und sie in die Briefkästen von Nachbargebäuden stecken. 21 Ein Techniker in einer Werkzeugmaschinenfabrik wurde verhaftet, weil er einen ähnlichen Appell verteilt hatte:
Arbeitende Leningrader! Der Tod schwebt über der Stadt. Täglich sterben zwei- oder dreitausend Menschen. Wer trägt die Schuld? Die Sowjetmacht und die Bolschewiki. Sie versichern uns, dass sie die Blockade aufheben und die Lebensmittelnormen erhöhen werden, doch dies sind Lügen, wie sich alles, was die Sowjetmacht versprochen hat, als Lüge entpuppte. Reißt die Führung der Stadt an euch! Rettet euch selbst und das Vaterland, oder der Tod erwartet euch! 22
Ein anderer Flugblattverfasser, der mit
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