Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
bloß ein sinnloses Zusatzgewicht«. 10 Innerhalb der Stadt waren die Leningrader schockiert über die extreme Abzehrung der Soldaten, die sie in Krankenhäusern oder beim Marsch durch die Straßen sahen. 11
Wie einige hungernde Zivilisten in Leningrad ließen sich auch manche Soldaten zum Kannibalismus verleiten. Hockenjos stieß in den Wäldern hinter Swanka auf ein »Menschenfresserlager«. Die von Fleisch entblößten Gliedmaßen bestätigten die Aussagen von zwei jungen Krankenschwestern der Roten Armee, die in Gefangenschaft geraten waren und im Feldlazarett seines Bataillons eingesetzt wurden. Wassili Jerschow – derselbe Mann, der angeblich gesehen hatte, wie Kinder an einem Kontrollpunkt antisowjetische Flugblätter verteilten – war oberster Nachschuboffizier der 56. Schützendivision der 55. Armee, die südlich von Leningrad in Kolpino lagerte. Zu seinen Pflichten gehörte die Versorgung eines Lazaretts in den ehemaligen Ischorski-Werken. Zwei- bis dreitausend Kranke und Verwundete lagen auf Stroh in Werkhallen mit Glasdächern und Zementfußböden; die zweihundert oder mehr, die täglich das Leben verloren, wurden auf dem Fabrikhof begraben. Das medizinische Personal, obwohl zahlreich, war unqualifiziert und – trotz einer offiziellen »Etappennorm« von 250 Gramm Brot pro Tag – ebenfalls abgemagert. »Eines Tages«, berichtet Jerschow,
fiel Lagun auf, dass ein Militärarzt, Hauptmann Tschepurny, im Schnee auf dem Hof buddelte. Aus einem Versteck beobachtete der Feldwebel, wie er ein Stück Fleisch von einem amputierten Bein abschnitt, es sich in die Tasche steckte, das Bein wieder im Schnee vergrub und davonging. Eine halbe Stunde später betrat Lagun das Zimmer des Arztes, als wolle er ihn etwas fragen, und sah, dass er Fleisch aus einer Bratpfanne aß. Der Feldwebel war sicher, dass es sich um Menschenfleisch handelte … Also schlug er Alarm, und im Lauf der sich anschließenden Ermittlung wurde deutlich, dass nicht nur die Kranken und Verwundeten des Lazaretts Menschenfleisch aßen, sondern auch die ungefähr zwanzig medizinischen Mitarbeiter, von Ärzten und Krankenschwestern bis hin zu Außendienstlern. Alle ernährten sich systematisch von Leichen und amputierten Beinen. Sie wurden auf speziellen Befehl des Militärrats erschossen.
Ihr Henker war der fröhliche, vulgäre Hauptmann Borissow von der Sonderabteilung, dem militärischen Ableger des NKWD. Ihm übergab Jerschow die Wodkaration für Erschießungskommandos (jeweils 600 Gramm, ein Drittel vor und zwei Drittel nach der Exekution). »Ich muss unterstreichen«, setzt Jerschow hinzu, »dass Hauptmann Borissow 40–60 Prozent der Verurteilten persönlich erschoss … Er konnte keinen Tag ohne Alkohol leben, und deshalb versuchte er, so viele Hinrichtungen wie möglich selbst zu vollziehen.« 12
Jerschow verzeichnete auch, dass verhungernde Soldaten die beiden Träger ermordeten, die zweimal täglich Thermoskanister voll Suppe, mit Lederriemen auf ihrem Rücken festgeschnallt, von den Feldküchen zur Front schleppten:
Anfang Januar 1942 erhielt der Divisionskommandeur dringende Anrufe vom Regiments- und vom Bataillonskommandeur. Sie beschwerten sich, weil diese oder jene Gruppe von Soldaten nicht verpflegt worden sei, denn der Träger sei anscheinend von deutschen Scharfschützen getötet worden und nicht mit seinem Kanister erschienen. Gründliche Nachprüfungen ergaben, dass sich etwas Unglaubliches abspielte. Soldaten verließen ihre Schützengräben früh am Morgen, um den Trägern entgegenzugehen, erstachen sie und nahmen die Nahrung mit. Dann aßen sie so viel, wie sie konnten, vergruben den ermordeten Träger im Schnee, versteckten den Kanister und kehrten in ihre Schützengräben zurück. Die Mörder erschienen dann noch zweimal am selben Tag: zuerst, um den Inhalt des Kanisters aufzuessen, und dann, um Stücke Menschenfleisch abzuschneiden und sie ebenfalls zu verzehren. Um Ihnen eine Vorstellung von der Größenordnung zu vermitteln, kann ich Ihnen mitteilen, dass es in meiner Division im Winter 1941–1942 allein an der Front, ohne Einheiten in der Etappe zu berücksichtigen, etwa zwanzig solcher Fälle gab. 13
Trotz des furchtbaren Zustands seiner Leningrader Armeen bezog Stalin sie in die allgemeine späte Winteroffensive ein, die bereits im November und Dezember, mitten in der Schlacht um Moskau, geplant worden war. Viel zu ehrgeizig angelegt, sollte sie dazu dienen, Smolensk, das ukrainische Donezbecken und die Krim
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