Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
wundervolle Person, ein bekannter Militärarzt und aufrichtiger russischer Patriot beleidigt, zerdrückt, zum Tode verurteilt wird – und in dem niemand etwas dagegen tun kann. 8
Es gelang ihr, ein Treffen mit dem Sekretär der NKWD-Parteiorganisation zu arrangieren, doch es führte zu nichts. »Wir kamen zu einer ›Unterhaltung‹ zusammen (ich kann nicht einmal darüber sprechen, ohne vor Hass zu zittern). Er nahm meine Bittschrift entgegen und versprach, sie dem Volkskommissar am selben Abend zu übergeben. Werden sie etwas tun? Schwer zu glauben.« Der Fall wurde tatsächlich nach Leningrad zurückgereicht (»einfach, damit sie sich den Ärger ersparen konnten«), und ihr Vater durfte erst nach Kriegsende heimkehren.
Berggolz’ Verzweiflung vertiefte sich durch das in Moskau herrschende Unwissen über die Ereignisse in Leningrad. Wie die militärischen Katastrophen der ersten Kriegsmonate hatte man die Hungersnot aus den Nachrichten verbannt. Die Zeitungen erwähnten zwar »Lebensmittelmangel«, doch nur selten und beiläufig; stattdessen ließen sie sich makaber über die Todesfälle unter Zivilisten durch deutsche Artillerie und Bombenangriffe aus. 9 Intern prägte man Euphemismen, um die Unmissverständlichkeit der Tragödie zu verbergen: Statt von »Hunger« oder »Hungersnot« (das russische Wort golod steht für beides) war in Regierungsberichten von »Erschöpfung«, »Avitaminose«, »den wachsenden Folgen der Unterernährung«, »Tod infolge von Schwierigkeiten mit der Lebensmittelversorgung« oder – am häufigsten – von »Dystrophie« die Rede. Dieser erfundene pseudomedizinische Begriff ging in die Umgangssprache ein und wird noch heute verwendet. 10 Obwohl Berggolz ungehindert mit ihren Moskauer Freunden sprechen konnte – was sie auch »unaufhörlich, mit einem dumpfen, entfremdeten Gefühl der Überraschung« tat, ähnlich wie bei ihrer Entlassung aus dem Gefängnis im Jahr 1939 –, wurden ihre Sendungen stark zensiert. »Mir ist sehr klar geworden«, schrieb sie,
dass sie dort nichts über Leningrad wissen … Niemand scheint die leiseste Ahnung zu haben, was die Stadt durchmacht. Zwar rühmten viele die Leningrader als Helden, doch weiß man nicht, was dieses Heldentum bedeutete. So war nicht bekannt, dass wir gehungert haben und viele verhungert sind … Ich durfte im Radio nichts klarstellen, denn man sagte mir: »Sie können über alles reden, nur nicht über die Hungeropfer. Kein Wort. Alles über den Mut und Heroismus der Leningrader – das brauchen wir –, aber kein Wort über Hunger.« 11
Am 20. April kehrte Berggolz mit Kisten voller Zitronen und Dosen mit Kondensmilch nach Leningrad zurück, wo der Winter geendet hatte und die Luftangriffe nun fortgesetzt wurden. Sie zog mit Makogonenko aus seiner Dachstube, die eine Aussicht auf die durch Geschosse beschädigten Dächer bot, zwei Etagen hinunter in die Wohnung eines kurz zuvor an der Front gefallenen Schauspielers. Die Wohnung war gefüllt mit seinen Besitztümern – mit Fotos, Büchern, »einer Menge kleiner Untertassen, zwei aufeinander abgestimmten Tassen und einem verrosteten Fleischwolf« –, was ihr Gefühl der Abtrennung erhöhte und sie glauben ließ, in das Leben eines anderen oder in ein Leben nach dem Tod eingetreten zu sein. Zu schreiben war unmöglich – »als müsse ich mir Lochstreifen unter Blut und Schmerzen aus der Seele ziehen«. Eine am 30. Mai abgehaltene Schriftstellerkonferenz hätte ihrer Meinung nach ein prächtiges Ereignis sein können, eine trotzige Feier der Macht des Wortes, aber in Wirklichkeit war es »organisierte Heuchelei« – langweilig, politisch angehaucht und umwölkt von dem gefährlichen Neid mancher Kollegen auf ihren plötzlichen Ruhm. 12
Sechs Wochen später verlor Makogonenko vorübergehend seinen Posten im Rundfunkhaus, weil er versehentlich die Ausstrahlung eines verbotenen Gedichts, Sinaida Schischowas »Straße des Lebens«, zugelassen hatte. Wegen seiner Erwähnung einer auf einem Balkon gelagerten Leiche und seinem bewusst banalen, äußerst sarkastischen abschließenden Reimpaar – »Ruhe, Sohn, du hast getan, was du konntest/Du warst die Verteidigung Leningrads« – hatten die Zensoren es als »sonderbar« und »geradezu spöttisch« eingestuft. Es war mitten in einer Strophe durch ein Telefonat direkt vom städtischen Parteikomitee aus der Sendung entfernt worden. 13 Berggolz’ eigenes Februartagebuch wurde zwar veröffentlicht, doch in verfälschter Form. Eine
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