Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Hier ist ein Herz – es hat mehr als ein Drittel, manchmal fast die Hälfte verloren. Die Milz ist auf einen Bruchteil ihrer normalen Größe geschrumpft. Wir sahen uns die Krankengeschichte dieser Leute an. Manche hatten vor ihrem Tod ausreichend gegessen, aber sie erholten sich trotzdem nicht, denn sie waren bereits irreparabel geschädigt. Dies ist eine grässliche Dystrophie der dritten Stufe und damit unumkehrbar … Nachdem der Körper seine Fettreserven verbraucht hat, zerstört er seine eigenen Zellen wie ein Schiff, das keinen Treibstoff mehr hat und zerbrochen wird, um seine Kessel zu heizen. Wir kannten das alles in der Theorie, doch nun sahen wir es mit eigenen Augen, berührten es mit den Händen, legten es unters Mikroskop.
Während er seine Muster durch das Mikroskop anschaute – »die dünnstmöglichen Scheiben menschlichen Gewebes – sauber und hübsch gefärbt« –, entdeckte er in seinem Innern zwei widersprüchliche Emotionen: die Gier nach einer wissenschaftlichen Untersuchung und den brennenden Wunsch, jemandem die Schuld zu geben. »Diese schönen Muster künden laut von einer Tragödie, von der Art, wie der Körper sich zur Wehr setzt. Sie weisen auf Vernichtung hin, auf die Zermalmung der Grundstrukturen von Lebewesen … Denn dieses ›Experiment‹ wurde keineswegs vom Leben veranstaltet. Ich spüre Hass auf diejenigen, die es durchgeführt haben.« Wen genau er verantwortlich machte, führte er nicht aus. 22
Als der Winter in den Frühling überging, bestand die Priorität der Regierung darin, den Ausbruch von Krankheiten zu verhindern. Tausende von unbeerdigten Leichen, die unter dem Schnee sichtbar wurden oder in Kellern und Vorratskammern auftauten, mussten dringend eingesammelt werden; außerdem galt es, die menschlichen Ausscheidungen – vornehm als »Schmutz« bezeichnet – zu beseitigen, die seit fünf Monaten Seitenstraßen und Höfe füllten. Während Garschin sich an seinem Labortisch um Distanz bemühte, säuberten draußen Krankenwärter mit geschwollenen Gesichtern, die Köpfe mit Schals umwickelt und mehrere Mantelschichten fest um den Körper geschnürt, das Gelände mit Hacken und Schaufeln. »Sie können nicht arbeiten«, schrieb Garschin. »Sie sind höchstens dazu fähig, an einem Ofen zu sitzen und Tee zu trinken. Aber sie arbeiten trotzdem … Es ist eine Art Überlebensinstinkt.« Mitte April wurden 52 Leichen aus dem Erisman-, 730 aus dem Kuibyschew-Krankenhaus, 114 aus einem Kinderkrankenhaus, 378 aus einer psychiatrischen Anstalt, 204 aus dem Finnischen Bahnhof, 70 aus dem Volkshaus und 103 aus dem zu einer Leichenhalle umfunktionierten Keller unter der kleinen Bibliothek geborgen, die am Ende der Eremitage an der Millionnaja-Straße lag. Auf den Friedhöfen sanken die Massengräber des Winters ein, verbreiteten Gestank und mussten bearbeitet werden. 23
Schon im Januar hatte man begonnen, auf die Menschen einzuwirken, damit sie ihre Fäkalien nicht draußen abluden und sich nicht in den allgemeinen Teilen ihrer Wohnblocks erleichterten, doch die Bemühungen waren vergeblich geblieben. »Am Eingang zum Sowetski-Prospekt 47«, meldete ein Polizist, »ist eine Notiz angebracht worden, dass jeder, der menschliche Ausscheidungen außerhalb des Gebäudes hinterlässt, strafrechtlich verfolgt wird. Aber auf dem Hof gibt es kein einziges Abflussrohr und keine Senkgrube, in die Ausscheidungen gekippt werden könnten, und ein hier eingerichtetes Klosett ist so verschmutzt, dass man sich ihm nicht nähern kann.« Eine Frau, die beim Entleeren eines Toiletteneimers erwischt wurde, gab zurück: »Dann stellt mich eben vor Gericht! Wohin soll ich es denn schütten? Über meinen Kopf?« Ihrer Meinung nach sollten der Pförtner und der Gebäudeverwalter belangt werden, denn ihretwegen seien die Rohre eingefroren, und sie müsse Wasser aus einem halben Kilometer Entfernung heranschleppen.
Nach mehreren Fehlstarts kam die Säuberungskampagne am 28. März endlich in Gang. Der erste Tag war enttäuschend: Die Beteiligten verspäteten sich oder erschienen gar nicht, denn die Verkehrsmittel waren unzulänglich, es gab nicht genug Brecheisen, und 450 der verteilten Schaufeln fehlte ein Griff. Viele von der Arbeit Freigestellte – alte Menschen, Kriegsverletzte und Kinder – meldeten sich aus eigenem Antrieb zum Dienst, doch andere versuchten, sich ihm zu entziehen. Eine Hausfrau murmelte: »Sollen sie uns doch erst einmal verpflegen, dann werden wir arbeiten«; eine
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