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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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den Boden. Ein Feuerzeug knistert, und sie flammen prasselnd auf, so dass eine kleine Fontäne leuchtender weißer Funken entsteht.
    Die Funde der Gruppe sind in der Turnhalle der örtlichen Schule ausgestellt. Man sieht handgemalte Landkarten, auf denen die Fronten sorgfältig in sich überschneidendem Rot und Grau markiert sind, eine Vielzahl von Handwaffen (die Miliz beschlagnahmt sie, wie Sascha kommentiert, von Zeit zu Zeit, doch die Mitglieder der Gruppe besorgen dann einfach neue), dazu etliche Helme, Wasserflaschen und Blechlöffel mit in den Griff gekratzten kyrillischen Initialen. Drei dicke Ordner sind mit den »Hundemarken« der Roten Armee gefüllt: schmalen, mit der Hand ausgefüllten Papierformularen, die man zusammenrollte und in kleine Bakelitzylinder mit Schraubverschluss steckte. Heutzutage ist der Text fast immer unleserlich, weshalb man von den 29000 Leichen, die aus der Mjasnoi-Bor-Gegend geborgen wurden, nur 1800 identifiziert hat. Saschas wertvollstes Ausstellungsstück, ausgegraben an der Stätte von Wlassows letztem Hauptquartier, hängt an der Wand. Es ist eine Druckform, deren Bleisatzzeilen noch in einem zerfressenen Metallrahmen stecken. Gedacht war sie für die ein Blatt umfassende »Zeitung« der 2. Stoßarmee. Die Schlagzeilen lauten: »Tod den deutschen Okkupanten«, »Der Feind wird unseren Widerstand nicht brechen«, und »Unser Sieg ist nahe«. Die Ausgabe, die wohl nie hergestellt wurde, ist auf Mittwoch, den 24. Juni, datiert – den Tag, an dem die Überreste der 2. Stoßarmee zum letzten Mal durch den Mjasnoi-Bor-Korridor stürmten.
    Insgesamt büßten die Leningrader Front und die Wolchow-Front durch die Winteroffensive von Januar bis April 1942308000 ihrer 326000 aktiven Kämpfer ein. Davon wurden 213303 als »medizinische Verluste« eingestuft, das heißt als Verwundete und im Krankenhaus Gestorbene, während 95000 als »unwiederbringliche Verluste«, das heißt als in der Schlacht Gefallene, als Kriegsgefangene oder Verschollene galten. Durch die Aktionen vom Mai und Juni verloren die nördlichen Fronten weitere 94000 Mann, darunter mindestens 48000, die laut deutschen Unterlagen bei Mjasnoi Bor in Gefangenschaft gerieten. 27
    Ilja Frenklach, ein Überlebender der dem Untergang geweihten Volkswehr, war in eine Aufklärungseinheit der 52. Armee der Wolchow-Front versetzt worden. Er hatte die Aufgabe, stundenlang regungslos im Niemandsland zu liegen und die feindlichen Linien mit einem Feldstecher zu beobachten. Der Grad der Verwesung der ihn umgebenden Leichen zeigte an, ob sie der »Einberufung in den Himmel« vom Herbst oder Frühjahr angehörten. »Während du dort lagst«, erinnerte er sich,
    konntest du nicht anders, als einen Vergleich anzustellen: Warum sind die Deutschen so gut ausgebildet, während wir nur versuchen, sie mit unserer Zahl zu erdrücken? Warum setzen sie ihre Technik und ihren Verstand ein, während wir nur Bajonette haben? Warum fließt unser Blut bei jedem Angriff in Strömen, und warum häufen unsere Toten sich zu Bergen auf? Wo sind unsere Panzer? Wer braucht dieses elende Dorf Dubrowka? Dazu kam eine Menge anderer unbeantworteter Fragen.
    Ein Gefühl des Ekels ergriff uns – nur Männer, die in den ersten beiden Kriegsjahren bei Leningrad oder am Wolchow gekämpft haben, werden verstehen, was ich meine. Wenn unsere Generale und Obersten fachmännisch vorgegangen wären, hätten wir mit einem Viertel der Verluste siegen können … Schlachter und Leichenbestatter – davon hatten wir viele. 28

 
    19
    Die sanfte Freude des Lebens und Atmens
    Im Frühjahr und Sommer 1942 brachten die Sowinform-Mitteilungen für alle, die die geistige Energie hatten, ihnen zu folgen, einen Strom schlechter Nachrichten. Die Niederlage der 2. Stoßarmee bei Mjasnoi Bor (abzuleiten aus der Tatsache, dass die Armee mit einem Mal nicht mehr erwähnt wurde) fiel mit der Umzingelung und dem Verlust von 200000 Soldaten außerhalb von Charkow und mit der Aufgabe der Halbinsel Kertsch auf der Krim zusammen. Die Verteidigung der Letzteren war von Lew Mechlis hoffnungslos verpfuscht worden, dem ignoranten Handlanger Stalins, der dazu beigetragen hatte, die Leningrader Januar-Offensive mit einer Katastrophe enden zu lassen. Der schlimmste Schlag war der Fall von Sewastopol am 3. Juli. Der Marinestützpunkt, die historische Heimstätte der russischen Schwarzmeerflotte, war seit November 1941 umzingelt gewesen; 106000 Sowjetsoldaten mussten 203000 Deutschen und Rumänen,

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