Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Winters in Wirklichkeit dafür gesorgt, dass sich das Kollektiv enger zusammenschweißte. 17 Bogdanow-Beresowski, der Vorsitzende des Leningrader Komponistenverbands, erhielt Bitten von evakuierten Mitgliedern, in ihren Wohnungen nach dem Rechten zu sehen – eine anstrengende Aufgabe, die bürokratische Kämpfe mit unehrlichen Gebäudeverwaltern sowie erschöpfende Wanderungen durch die Stadt nach sich zog. Anna Achmatowa, die in dem mit Intelligenzlern gefüllten Taschkent an Typhus litt, hörte, ein kleiner Junge mit dem Spitznamen Schakalik (»Kleiner Schakal«), der nebenan im Scheremetjew-Palast gewohnt hatte, sei während eines Luftangriffs gestorben. Früher hatte sie ihm Lewis Carroll vorgelesen, nun schrieb sie ein eigenes Gedicht für ihn:
Klopf mit deiner kleinen Faust – ich werde öffnen.
Ich habe dir immer die Tür geöffnet.
Nun bin ich jenseits des hohen Berges,
Jenseits der Wüste, jenseits des Windes und der Hitze,
Aber ich werde dich nie im Stich lassen …
Ich habe dein Stöhnen nicht gehört,
Du hast mich nie um Brot gebeten.
Bring mir einen Zweig vom Ahorn
Oder einfach ein wenig grünes Gras
Wie im letzten Frühling.
Bring mir in deinen hohlen Händen
Etwas von eurem kühlen, reinen Newawasser,
Und ich werde die blutigen Spuren
Aus deinem goldenen Haar waschen. 18
Die »blutigen Spuren«, fand sie später heraus, erschienen unangemessen, denn nicht Schakalik, sondern sein älterer Bruder war gestorben – und nicht durch einen Luftangriff, sondern an Hunger.
Für Vera Inber brachte ein Bündel ungeordnet datierter Briefe von ihrer Tochter, die mit Pasternak nach Tschistopol evakuiert worden war, die Nachricht vom Tod ihres kleinen Enkels an Hirnhautentzündung: »Ich las den Brief zu Ende. Legte ihn beiseite. Dann griff ich plötzlich, ganz unvermittelt, wieder danach und las ihn noch einmal in der vagen Hoffnung: vielleicht schien es mir bloß so. Aber nein, es ist wahr.« 19 Zur Feier seines ersten Geburtstags hatte sie für ihn eine Rassel aus einer rosa Zelluloidröhre, einer getrockneten Erbse und einem Stück Band hergestellt und sie ans Ende seines Bettes gehängt. Damals war er, wie sie nun erfuhr, bereits seit einem Monat tot gewesen, und sie versteckte die Rassel in einer Schublade.
An der Front erhielt Wassili Tschurkin zwei Briefe. Aus dem ersten, von seinem Vater, erfuhr er, dass sein älterer Sohn Schenja dreieinhalb Monate zuvor in der Schlacht gefallen war. In dem zweiten, von seinem jüngeren Sohn Tolja, wurde der Hungertod seiner Frau beschrieben: »Sie luden ihre Leiche, zusammen mit anderen, auf einen Lastwagen im Hof unseres Gebäudes, genau wie Feuerholz. Dann wurde sie zum Piskarjowskoje-Friedhof, zu einem Gemeinschaftsgrab, gebracht … Du und ich, Papa, sind nun als Einzige von unserer Familie übrig. Nimm Rache an den zweibeinigen Bestien, Papa, für Mama und Schenja!« 20 Tolja selbst, der gerade siebzehn Jahre alt geworden war, freute sich auf die Einberufung und hoffte, sich der Einheit seines Vaters anschließen zu können.
Für Wladimir Garschin, den vierundfünfzigjährigen kultivierten Chefpathologen des Erisman-Krankenhauses (und Liebhaber von Anna Achmatowa), führte der Rückweg in eine gewisse Normalität durch die Arbeit. Im März entkleidete er sich zum ersten Mal seit drei Monaten: »Sie legten diesen seltsamen knochigen Körper ins Wasser und hoben ihn wieder heraus. Der Körper konnte nicht ohne Hilfe aus dem himmlischen Wasser steigen. Warm! … Es ist der Körper eines anderen, nicht meiner. Ich kenne ihn nicht, er funktioniert anders als früher. Er bringt andere Exkrete hervor, alles an ihm ist neu und unvertraut.« Auch seine Persönlichkeit hatte sich verändert. Zu seinem Glück war er während des Massentodes nicht in Gleichgültigkeit und auch nicht in Hass und Wut verfallen (zum Beispiel schenkte er der Familie, bei der Anna Achmatowa vor ihrer Evakuierung gewohnt hatte, einen Beutel Hafer und rettete diesen Menschen das Leben). 21 Und doch hatten sich die Dinge gewandelt. Er fühlte sich »nicht ganz richtig«, musste in seinem Innern nachforschen, »diesen neuen Körper und diese neue Seele untersuchen, ihre verborgenen Winkel betrachten, als wäre ich in eine neue, unbekannte Wohnung gezogen«. Außerdem sezierte er Leichen im Erisman-Krankenhaus. Wie zu erwarten, hatten sie kein Fett an sich, doch das Erstaunlichste an ihnen waren die Organe:
Hier ist eine Leber – sie hat fast zwei Drittel ihres Gewichts verloren.
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