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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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geführt von Erich von Manstein, standhalten. Die Zivilisten waren, wie in Leningrad, nicht evakuiert worden, sondern suchten vor intensivem Artilleriefeuer Schutz in Kellern, Höhlen und Katakomben, wo sie Kleidungsstücke und Kriegsmaterial herstellten, während sie sich von Katzen und Hunden ernährten. Drei Tage bevor Stalin schließlich befahl, Sewastopol aufzugeben – der kommandierende Admiral verschwand mit einem U-Boot –, prahlte die Presse noch mit der Unbesiegbarkeit der Stadt. »Sewastopol«, bramarbasierte man in der Zeitung Krasnaja swesda (Roter Stern), »ist der Ruhm Rußlands, der Stolz der Sowjetunion. Wir haben erlebt, wie Städte, berühmte Festungen, Staaten kapitulierten. Aber Sewastopol ergibt sich nicht. Unsere Soldaten spielen nicht Krieg. Sie kämpfen einen Kampf auf Leben und Tod. Sie sagen nicht: ›Ich ergebe mich‹, wenn sie sehen, daß der Feind zwei oder drei Figuren mehr auf dem Schachbrett hat.« 1 Das war eine Anspielung auf Tobruk, den libyschen Hafen, der für die Verteidigung Ägyptens durch die britische 8. Armee so wichtig gewesen war. Rommel hatte ihn neun Tage zuvor fast ohne Blutvergießen erobert, dabei 33000 britische und südafrikanische Soldaten gefangen genommen und große Materialmengen erbeutet. Churchill erhielt die Nachricht im Oval Office, mitten in einem Gespräch mit Roosevelt. »Es war ein grässlicher, ganz unerwarteter Schock«, erinnerte sich einer der anwesenden Generale. »Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich den Premierminister zusammenzucken.« Im August flogen Churchill und Roosevelts Botschafter Averell Harriman zu ihrem ersten Gipfeltreffen mit Stalin nach Moskau, wo sie ihm darlegten, dass die versprochene Landung in Nordfrankreich auf unbegrenzte Zeit zugunsten von Operation Torch verschoben werden solle, die den Zweck habe, Rommel von Marokko und Algerien her (welche der Vichy-Regierung unterstanden) in den Rücken zu fallen. Stalins Reaktion war so unhöflich, dass Churchills Dolmetscher glaubte, sein russischer Kollege habe einen Fehler gemacht. In Wirklichkeit waren die Worte des Diktators perfekt wiedergegeben worden: Stalin hatte seinen Verbündeten ins Gesicht gesagt, dass sie sich vor den Deutschen fürchteten. 2
    Während sich die Großmächte miteinander stritten, kehrte der Frühling in Leningrad ein. Das Eis zerbrach auf den Kanälen, Schnee rutschte in Form von wässrigen Lawinen von Dächern und Balkons, und die für die Brandbekämpfung benutzten Sandhaufen, deren Stützbretter längst zu Feuerholz gemacht worden waren, tauten und zerbröckelten. In der Eremitage wurde der Keller unter dem Saal der Athene durch Rohrbrüche überschwemmt, so dass eine Porzellansammlung aus dem achtzehnten Jahrhundert unter Wasser stand. Die Angestellten – inzwischen fast ausschließlich Frauen – wateten durch die trübe Brühe, in der Inventarschilder trieben, und tasteten vorsichtig nach Meißener Ziegenhirten und Schäferinnen. Risse öffneten sich in dem von Bomben erschütterten Palastdach, und Armeekadetten, die halfen, Möbel ins Trockene zu tragen, wurden zum Dank von einer Museumsführerin durch die Galerien geleitet. Sie ging von einem leeren Rahmen zum anderen und beschrieb den Soldaten die fehlenden Meisterwerke. 3
    Sobald die Tage länger wurden und die Rationen sich erhöhten, tauchten die Leningrader aus ihren »kleinen Radien« auf, um sich wieder mit der Außenwelt und mit normalen menschlichen Gefühlen vertraut zu machen. Olga Gretschina, Korb und Schere in der Hand, durchsuchte die Parks nach dem ersten Löwenzahn und Nesseln, doch da so viele den gleichen Gedanken gehabt hatten, musste sie sich auf einen Schießplatz begeben, um fündig zu werden. Als sich die ersten Straßenbahnen am 15. April in Bewegung setzten, stolperten die Menschen lachend und weinend hinter ihnen her. 4 »Im Speisesaal«, schrieb Dmitri Lichatschow vom Puschkinhaus, »begrüßten wir einander mit den Worten: ›Du lebst noch! Ich bin so froh!‹ Man erfuhr beunruhigt, dass Soundso tot war, dass Soundso die Stadt verlassen hatte. Die Menschen zählten einander und prüften, wer nicht mehr da war – wie beim Appell in einer Strafanstalt.« 5
    Am 1. Mai (zu dessen Feier Schaufensterläden mit Plastikobst und -gemüse geschmückt wurden 3 ) sah der Werftingenieur Wassili Tschekrisow mit Vergnügen, dass nicht nur Männer mit Krawatte und Frauen mit Hut und geschminkten Lippen zur Arbeit gingen, sondern dass auch Betrunkene unterwegs waren.

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