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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Normalerweise hätten sie ihn abgestoßen, doch in diesem Jahr verkörperten sie eine willkommene Rückkehr zur Normalität. Zwei Wochen später wachte er zu seinem Erstaunen mit einer Erektion auf und hörte, wie eine Frau auf einem Hof schimpfte und heulte. »Ich weiß nicht, warum sie weinte. Jedenfalls sind Tränen ein Beweis dafür, dass sich die Situation in Leningrad verbessert. Als jeden Tag Hunderte von in Fetzen gehüllte Leichen durch die Gegend geschleppt oder auf die Straßen geworfen wurden, gab es keine Tränen (oder ich bemerkte sie nicht).« 6
    Für Lidia Ginsburgs vom Hunger betäubten »Blockademenschen« waren die ersten zurückkehrenden Emotionen Ärger – über die durchlässigen Überschuhe, über eine zerbrochene Brille, über Ungeschicktheit beim Umgang mit Handschuhen und Einkaufstaschen in einem überfüllten Lebensmittelladen – und Ungeduld, das »Gefühl der verlorenen Zeit«. Dann folgten Kummer und, eng damit verknüpft, Schuldbewusstsein:
    Die Blockademenschen vergaßen ihre Empfindungen immer mehr, nur an die Fakten konnten sie sich weiterhin erinnern. Im Licht von Verhaltensregeln, die schon zur Norm tendierten, traten diese Fakten nur zögernd aus dem sich trübenden Gedächtnis hervor.
    … Sie hatte solch eine Lust auf Bonbons. Warum hab’ ich bloß dieses Bonbon aufgegessen? Ich hätte es doch wirklich nicht essen müssen. Und alles wäre ein wenig leichter gewesen …
    Dies denkt der Blockademensch, wenn er sich an seine Frau oder Mutter erinnert, durch deren Tod das aufgegessene Bonbon zu etwas Unumkehrbaren geworden ist … Der Mensch erinnert sich an ein Faktum, doch er vermag nicht mehr, sich an das dazugehörige Erlebnis zu erinnern; an das Erleben eines Stücks Brot, eines Bonbons, das ihn dazu gebracht hatte, grausam, ehrlos, erniedrigend zu handeln. 7
    Eine dieser von Reue gequälten Überlebenden war Olga Berggolz, deren an Epilepsie leidender Mann Kolja im Februar im Krankenhaus gestorben war. Sie gab ihrem Kummer und ihren Gewissensbissen in den Tagebüchern Ausdruck: Warum hatte sie ihn nicht jeden Tag besucht? Warum war sie bei seinem Tod nicht an seiner Seite gewesen? Warum hatte sie ihm nicht einige der Kekse gebracht, die ihre Schwester aus Moskau geschickt hatte? Und vor allem, wie sollte sie sich gegenüber ihrem Kollegen im Rundfunkhaus, Juri (Jurka) Makogonenko, verhalten, mit dem sie immer noch in eine leidenschaftliche Affäre verwickelt war?
    Heute hatte ich den ganzen Tag Bilder von Kolja vor mir: wie er war, als ich ihn zum zweiten Mal im Krankenhaus an der Pessotschnaja besuchte. Seine geschwollenen Hände, von Rissen und Geschwüren bedeckt. Wie er sie der Krankenschwester behutsam hinhielt, damit sie die Verbände wechselte; wie er dabei dauernd besorgt vor sich hinmurmelte, so dass es mir schwerfiel, ihn zu füttern, und ich das kostbare Essen verschüttete. Ich war verzweifelt und biss ihn in einem Wutanfall in seine arme geschwollene Hand. Oh, du Luder! … Ich war seiner überdrüssig. Ich verriet ihn. Nein, das stimmt nicht. Ich verriet ihn nicht, sondern ich war schwach und verhärtet. Wie Jurka nun nach mir ruft! Aber das bedeutet, Kolja zu betrügen! ICH HABE IHN NICHT BETROGEN. Niemals. Aber Jurka mein Herz zu geben bedeutet, Kolja zu betrügen … Ich bin unglücklich im vollen, absoluten Sinne des Wortes … Ich hoffe, dass alles Schreckliche, das geschehen kann, mir zustößt.
    Dieser Strom der Emotionen floss zur selben Zeit, als sie mit ihrem langen Gedicht »Februartagebuch« einen Erfolg bei den Lesern und bei der Zensur feierte. Im Spätmärz wurde sie (gejagt von sechs Messerschmitts) nach Moskau zu einer Reihe von Lesungen und Empfängen geflogen, darunter zu einem in der NKWD-Zentrale (»Wahrscheinlich waren ein paar menschliche Wesen unter ihnen. Aber was für Trottel, was für Rüpel sie sind«). Das Ereignis bot ihr die Gelegenheit, eine Bittschrift für ihren Vater einzureichen, der damals mit einem Gefängniszug nach Minussinsk in Südsibirien unterwegs war.
    Er schreibt: »Nimm Kontakt auf, mit wem du kannst – Berija etc. –, aber hol mich hier raus.« Er ist seit dem 17. März auf Reisen. Sie werden einmal pro Tag verpflegt, und manchmal überhaupt nicht. In seinem Waggon sind bereits sechs Menschen gestorben, und einige mehr warten, bis sie an der Reihe sind … Mein Gott, wofür kämpfen wir? Wofür ist Kolja gestorben? Warum laufe ich mit einer brennenden Wunde in meinem Herzen herum? Für ein System, in dem eine

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