Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
dreimal wiederholte Zeile – »In diesem Schmutz, in Dunkel, Hunger, Sorge« – schwächte man ab, indem man die Wörter »Hunger« und »Schmutz« durch die ungefährlich abstrakten Begriffe »Zwang« und »Leid« ersetzte. 14 Trost spendeten jedoch gewöhnliche Leser, die zu Hunderten an Berggolz schrieben. Einige der Briefe waren halbamtliche Gruppenschreiben von Einheiten der Roten Armee oder von Kolchosen, doch andere stammten von Privatleuten, die ihr dafür dankten, dass sie ihre Erfahrungen und Gefühle in Worte gekleidet habe. Eine Frau erzählte, wie Berggolz’ Sendungen ihr geholfen hätten, die Nachricht vom Tod ihres Sohnes an der Front zu ertragen; eine andere war beruhigt worden, als sie versuchte, ihren sterbenden Mann in der Dunkelheit zu füttern, wobei der Löffel sich häufig seiner Nase, nicht seinem Mund genähert hatte. »Dies ist wahrhaft großartig«, schrieb Berggolz:
Die Menschen von Leningrad lagen massenhaft in ihren dunklen, feuchten Ecken, während ihre Betten wackelten … (Gott, ich weiß, wie ich selbst dalag, ohne jeden Willen, ohne jeden Wunsch, bloß im leeren Raum). Und ihre einzige Verbindung mit der Außenwelt war das Radio … Wenn ich ihnen einen Moment des Glücks – oder auch nur eine vorübergehende Illusion des Glücks – gebracht habe, dann ist meine Existenz gerechtfertigt.
Wie andere fand sie mit Symbolik befrachteten Trost in der Ankunft des Frühlings, im Ergrünen der Linden des Stadtplatzes und im Sprießen von Huflattich und Kamillen mitten im Geröll von Trümmergrundstücken. Einer der wenigen wirklich frohen Tagebucheinträge kam in einer warmen Juninacht zustande, während Makogonenko draußen auf dem Dach stand und nach Brandbomben Ausschau hielt:
Gestern verbrachten wir einen wunderbaren Abend. Unter großen Unkosten besorgte Jurka ein Riesenbündel Birkenzweige. Wir nahmen sie mit in die Wohnung und steckten sie in eine Vase. Das Fenster war weit geöffnet, und man konnte den großen ruhigen Himmel sehen. Eine kühle Brise wehte herein. Die Stadt war sehr still, und die Birken dufteten so süß, dass mein ganzes Leben, meine beste Zeit, in mir wiedergeboren zu werden schien. Gefühle durchströmten meine Seele: Glück, Leidenschaft, Zufriedenheit. Feuchte, wohlriechende Kinderabende in Gluschina. Mein erster Abend mit Kolja auf der Insel, als er, jung und schön, mich zum ersten Mal küsste. Ich trug ein besticktes Kleid, und es roch damals ebenfalls nach Birke … Und nun denke ich an gestern Abend, als ich neben einem schönen, liebevollen, wirklich vorhandenen Ehemann lag und mit meinem ganzen Wesen spürte, dass dies Glück ist – dass er heute neben mir liegt, mich liebt, dass es still ist und nach frischer Birke duftet. All das verschmilzt miteinander – schmerzlos oder, besser gesagt, mit einem angenehmen Schmerz. Alles war großartig, ewig, ein Ganzes. 15
Gegen Ende März funktionierte auch der Postdienst wieder, so dass die Leningrader seit Monaten oftmals die ersten Nachrichten von Freunden und Verwandten in der Evakuierung erhielten. Da die Evakuierten sich nur vage vorstellen konnten, was die Zurückgebliebenen durchgemacht hatten, war die Wiederherstellung des Austausches meist schwerfällig. Die Altphilologin Olga Freudenberg, die von Skorbut geplagt wurde und am Stock ging, fühlte sich durch einen recht unbekümmerten Brief ihres Cousins Boris Pasternak beleidigt, in dem er das Leben in der Uralstadt Tschistopol schilderte: Schlamm sickere zwischen den Pflastersteinen hervor, und Hausfrauen benutzten an einem Holzjoch hängende Eimer, um Wasser von dem Feuerhydranten vor seinem Fenster zu holen. »Irgendwie will mir der Brief an Dich nicht recht von der Hand gehen«, schrieb er beunruhigt. »Ich spüre (und solche Gefühle trügen nie), Du liest ihn kalt und unbeteiligt.« Das traf zu, denn Freudenberg hatte mehr erwartet: »Der Brief zeugte von seelischer Erschlaffung und Erschöpfung, von seelischer Konfusion. Wie schon einmal zu Beginn der Revolution kamen Wassereimer in dem Brief vor, und sein Geist war so flach wie eine abgegriffene Münze.« 16
Im Februar hatte die junge Museumsdirektorin Anna Selenowa in einem Brief nach Nowosibirsk freimütig die Spannungen beschrieben, die sich bei dem in der Isaakskathedrale eingepferchten Museumspersonal herausgebildet hatten. Nun machte sie einen Rückzieher. Vielleicht habe sie einen falschen Eindruck erweckt, denn obwohl niemand ohne Achillesferse sei, hätten die Prüfungen des
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