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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Fabrikarbeiterin erklärte rundweg: »Wir wollen es nicht, basta.« Die persönlichen Daten eines Mannes, der schimpfte: »Ich beabsichtige nicht, für die Sowjetregierung zu arbeiten«, wurden dem NKWD übergeben. 24 Gleichwohl stieg die Zahl der Mitwirkenden zwei Tage später auf 290000. »Die gesamte Stadtbevölkerung«, schrieb Vera Inber,
    säubert die Straßen. Es ist so, als würde man einen verschmutzten Nordpol in Ordnung bringen. Alles ist ein Chaos – Eisblöcke, gefrorene Schmutzhaufen, Stalaktiten aus Jauche … Wenn wir einen sauberen Bürgersteigstreifen sehen, sind wir gerührt. Uns kommt er so schön vor wie eine blumenbedeckte Lichtung. Eine gelbgesichtige, aufgedunsene Frau, die einen rußgeschwärzten Pelzmantel trug – wahrscheinlich hatte sie ihn den ganzen Winter hindurch nicht ausgezogen –, stützte sich auf eine Brechstange und betrachtete ein Stück Asphalt, das sie gerade geräumt hatte. Dann grub sie weiter. 25
    Laut Olga Gretschina, die mit ihrem Zivilschutzteam entsandt worden war, um den Leo-Tolstoi-Platz zu reinigen, ähnelte die Szene der »Ausgrabungsstätte irgendeiner antiken Stadt«:
    An manchen Stellen hatte man den Schnee völlig weggeräumt, an anderen hatte die Arbeit noch nicht begonnen. Die Menschenmengen waren größer, als wir sie seit Langem an einem einzigen Ort gesehen hatten. Wer nicht arbeiten konnte, ließ sich einfach auf Hockern nieder, nachdem man ihr oder ihm hinaus in die Sonne geholfen hatte. Alle arbeiteten gern und eifrig. Gruppen der Schwächsten schleiften große Schnee- und Eisblöcke auf mächtigen Sperrholzplatten mit daran befestigten Seilen zur Karpowka. All der Schmutz und Schnee wurde in den Fluss geworfen. 26
    Alexander Boldyrew, der immer noch unermüdlich die Institute abgraste, um Nachzahlungen und Passierscheine für Mahlzeiten an sich zu bringen, hörte zwei Tage im Voraus von der Kampagne. Er war sich sicher, dass sie für viele das Ende bedeuten würde, doch die Bürokraten argumentierten, es sei »besser, wenn nun ein paar Hundert Hausfrauen und Abhängige sterben als mehrere Tausend in einem Monat an einer Epidemie«. Nachdem man ihn dazu aufgefordert hatte, bei der Reinigung des Eremitage-Geländes mitzuhelfen, vollbrachte er zwei Stunden Arbeit am 28. März (»Ada und andere brüllten, sie seien Sklaventreibern ausgeliefert«) und eine weitere Stunde am 29. März, bevor er unter dem Vorwand, sich das Knie verletzt zu haben, absagte (»Der Gestank des halb geschmolzenen Schokoladenschnees ist ekelhaft. Wenn man ihn mit einer Spitzhacke aufbricht, spritzen Tausende von Tröpfchen auf Kleidung und Gesicht«). Am folgenden Tag zog er sich tatsächlich eine Verletzung zu, denn er schnitt sich die Daumenspitze beim Holzhacken ab. Durch das Attest eines mitfühlenden Arztes (dem er zum Dank mehrere Kunstbände schenkte) wurde er von weiterem Arbeitsdienst befreit, doch andere hatten weniger Glück. »Pruschewskaja starb heute in der Genesungsklinik der Eremitage«, schrieb er am Ostersonntag. »Obwohl sie eine extreme, klassische Dystrophikerin war, musste sie vorgestern noch Schnee räumen. Nun tröstet Ada Wassiljewna sich mit dem Gedanken, dass [Pruschewskaja] bereits geisteskrank war, als sie in die Klinik gebracht wurde.« 27 Insgesamt beseitigte das Personal der Eremitage sechsunddreißig Tonnen Schnee, Eis, Holzsplitter, heruntergefallenen Mörtel und Glasscherben. 28
    Die Säuberungskampagne vom März und April ist eines der Versatzstücke der Belagerung. Sie wird in fast jedem Interview mit Überlebenden zitiert, und man schreibt ihr zu, Epidemien der drei typischen Hungerkrankheiten – Ruhr, Fleckfieber und Typhus – wunderbarerweise verhindert zu haben. Aber die Wirklichkeit sah anders aus. Obwohl die Gesamttodesrate ab März fiel, waren die Fälle von Ruhr und Fleckfieber pro tausend Kopf der Bevölkerung im April fünf- bis sechsmal höher als im Vorjahr. Die von Typhus waren fünfundzwanzigmal so hoch. Der Chef der Leningrader Garnison nennt diese Zahlen in einem Privatbrief an Schdanow und weist wütend auf die unzureichende medizinische Versorgung und den Mangel an Waschgelegenheiten hin. Die Hälfte der städtischen Badehäuser sei noch nicht wieder in Betrieb, nur sieben Prozent der Wohnungen hätten fließendes Wasser, lediglich neun Prozent seien an die Kanalisation angeschlossen und ein Drittel der Haushalte leide unter schwerer Läuseinfektion. Viele Höfe seien immer noch mit menschlichen Exkrementen bedeckt. Zu den

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