Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
umgestimmt worden und ging heim, um einen Beitrag von 300 Rubel zu holen. Im Kollektiv »Roter Pflüger« weigerte sich ein voreiliger Este zunächst, eine Spende zu leisten, doch »nachdem er die Beschwingtheit der anderen Mitglieder erlebt hatte, verpflichtete er sich, 1000 Rubel in bar zu zahlen«.
Anderswo zeigten sich die Dorfbewohner offenherziger, denn der Lärm der deutschen Kanonen ermutigte sie, sich ihren Funktionären zu widersetzen. Eine Frau, die wegen schlechter Arbeit vom Vorsitzenden ihres Dorfsowjets getadelt worden war, gab wütend zurück:
Ich kann das Ende der Sowjetherrschaft nicht abwarten. Sie hat die Bauern in den Bankrott getrieben, uns hungrig und barfüßig zurückgelassen, und nun zieht ihr uns nackt aus. Aber ich beuge mich nicht vor euch feinen Herren. Eure Herrschaft geht zu Ende. Ihr habt all die guten Menschen aus dem Dorf gejagt, doch wartet nur, ihr seid als Nächste an der Reihe.
Ein fünfzigjähriges Mitglied des Kollektivs »Einheit« trat genauso kühn auf. »Unsere Zeit wird bald kommen, und wir werden uns nehmen, was uns gehört. Ich kann zwar nicht lesen oder schreiben, aber ich werde der Erste sein, der die Bonzen ausliefert. Man wird mir Glauben schenken. Dann werden wir es euch heimzahlen. Und wir werden jedem von euch nicht nur ein Lamm abnehmen, sondern zwei Gürtel auf eurem Rücken kurz und klein schlagen.« (Diese »konterrevolutionäre Tätigkeit«, hieß es in dem Bericht, sei zum Zweck der Verhaftung dokumentiert worden.) Weit verbreitete Gerüchte besagten, Amerika und Großbritannien hätten im Austausch für die Eröffnung einer zweiten Front gefordert, dass die Regierung die Kolchosen auflöste und das Land den bäuerlichen Besitzern zurückgab. 33
In der Stadt kam es zu neuen Initiativen gegen Lebensmitteldiebstahl und Schwarzmarkthandel. Obwohl man etliche Geschäftsführer und Angestellte von Lebensmittelläden und -verteilungsagenturen verhaftete (520 im Juli, 494 im August) und erhebliche Mengen unrechtmäßig erworbener Besitztümer beschlagnahmte (62 goldene Uhren im September), blühte die Kriminalität weiterhin. 34 Wenn Straßenmärkte in irgendeinem Stadtteil geschlossen wurden, tauchten sie in einem anderen wieder auf, und Fabrikarbeiter beklagten sich immer noch darüber, dass ihre Chefs mit dem Küchenpersonal konspirierten, um die Rationen zu schmälern. In der Sudomech-Werft lösten die Strafmaßnahmen eine Auseinandersetzung zwischen der Fabrikleitung und der Parteiorganisation aus. »Sämtliche höheren und niedrigeren Führungskräfte trinken Alkohol«, vertraute das desillusionierte Parteimitglied Wassili Tschekrisow seinem Tagebuch an.
Immer häufiger sieht man, dass die Halunken beschwipst sind. Wenn sie sich betrinken wollen, sollen sie es wenigstens hinter verschlossenen Türen tun. Sie fressen sich voll, decken all den Diebstahl in den Kantinen und haben die Arbeiterkontrolle ausgeschaltet, weil sie dadurch gestört werden. Es gibt zahlreiche Vorgesetzte wie diese – nicht bloß hier, sondern überall … Auf Versammlungen sprechen sie sich für die Gartenbau-Initiative aus, und manchmal inspizieren sie am Wochenende sogar die Schrebergärten. Aber privat reden sie nur davon, wie sie möglichst viel an sich raffen können. Die Inventarleiter haben jeweils zwanzig Lebensmittelkarten. Wo ist das NKWD? Kann es sie wirklich nicht fassen?
Ende August erhob er sich auf einer Parteiversammlung und brachte eine (fruchtlose) öffentliche Beschwerde vor. »Ich war zufrieden mit meinen Worten, obwohl ich weiß, dass Kalinowski [der Sudomech-Direktor], Derewjanko und die anderen mir nicht verzeihen werden. Sie sollen sich zum Teufel scheren. Ich habe das gesagt, was alle im Saal dachten … Ich werde mich nicht für ein Linsengericht verkaufen, obwohl ich jeden Tag Hunger habe.«
Tschekrisow versuchte nicht nur, eine Vielzahl fast unmöglicher Produktionsanweisungen zu erfüllen, sondern erhielt auch den Auftrag, vierzehn Holzgebäude südlich des Alexander-Newski-Klosters im Rahmen einer Regierungskampagne zur Beschaffung von Feuerholz abreißen zu lassen. Manche wurden mit Sägen und Äxten zerstört, andere mit einer Trosse, die an einem Traktor angebracht war, niedergerissen. Obgleich Tschekrisow die Arbeit für notwendig hielt, empfand er sie als deprimierend, weil die Gebäude gut konstruiert (zur Isolierung mit einer traditionellen Schlackeschicht unter den Dielenbrettern) und ihre Bewohner noch nicht umgesiedelt worden waren. In
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