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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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»Brutstätten« des Typhus gehörten Genesungskliniken, Kinderheime, Bahnhöfe und Evakuierungsstellen, und wenn man nicht sofort geeignete Maßnahmen ergreife, würden bald auch Kasernen dazu zählen. 29 Ruhr – bekannt als »Hungerdurchfall« – wird ebenfalls häufig in den Tagebüchern erwähnt, da sie den bereits Hungernden in vielen Fällen zum Verhängnis wurde. Boldyrew gelang es, über die Situation zu scherzen. Unterwegs zu einer Besprechung mit Eremitage-Verwaltern, war er gezwungen, »das Unaussprechliche« in einer leeren Galerie (in der normalerweise Raffaels Madonna Conestabile untergebracht war) zu tun, doch er stellte zu seiner Freude fest, dass praktischerweise ein Spaten und eine Menge Sand – offiziell zur Brandbekämpfung – bereitgehalten wurden.
    Während das Frühjahr in den Sommer überging und die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Blockade verblich, konzentrierte man sich darauf, eine Wiederholung der Massentode des letzten Winters zu verhindern. Als Dmitri Lasarew zum ersten Mal seit Monaten mit der Straßenbahn fuhr, bemerkte er, dass die öffentlichen Anschläge des Vorjahrs – »Entlarvt Flüsterer und Spione!«, »Tod den Provokateuren!« – nun durch praktischere Ermahnungen ersetzt worden waren:
    Fünfzehn Hundertstel eines Hektars können 800 kg Kohl, 700 kg Rüben, 120 kg Gurken, 130 kg Karotten, 140 kg Steckrüben, 50 kg Tomaten und 200 kg anderes Gemüse erzeugen! Das ist mehr als genug für den Jahresbedarf einer ganzen Familie. Bewahrt Asche von Öfen für euer Gemüsebeet auf! 30
    Die Gartenbau-Initiative wurde enthusiastisch von den Leningradern aufgenommen. Mit Hilfe der durch die Regierung organisierten Verteilung von Saatgut und Gerät – Hacken und Schubkarren wurden speziell hergestellt – legten sie Tausende von Gemüsebeeten in Parks, auf Plätzen und Trümmergrundstücken an. Auf dem Dach der Eremitage gruben die Angestellten die Flieder- und Geißblattsträucher des »hängenden Gartens« von Katharina der Großen um und pflanzten stattdessen Karotten, Rüben, Dill und Spinat an. Die Boldyrews säten Zwiebeln in einem Blumenkasten (»Oh, ich sehne mich nach Zwiebeln!«), und die Lichatschows züchteten Rettich in einem umgedrehten Küchentisch. Laut Prawda wurden 1942 25000 Tonnen Gemüse in Schrebergärten angebaut; im folgenden Jahr waren es sogar 60000 Tonnen. Damit erwiesen sich solche Parzellen, was den Ertrag pro Morgen anging, als doppelt so produktiv wie 633 neue »Hilfsbauernhöfe«, die Instituten, Schulen und Fabriken zugeordnet wurden. 31
    Große Lebensmittelmengen wurden auch, wie schon im Winter, bei den Kolchosen innerhalb des Belagerungsrings requiriert. Die Bauern mussten durch ihre Kollektive nicht nur die üblichen Lieferungen an den Staat leisten, sondern auch Vieh und Saatgut für Flüchtlinge in ihrer Gegend bereitstellen, eine Panzerkolonne (mit der Bezeichnung »Leningrader Kolchosbauer«) finanzieren und der Roten Armee Getreide aus ihren persönlichen Vorräten »spenden«. Die Bezirksparteikomitees wurden angewiesen, sich für Erntevoraussagen auf das Statistikamt und nicht auf die Bauern selbst zu stützen. Komitees, die ihre Quoten nicht erfüllten, warf man vor, »antikollektivistischen Elementen« entgegenzukommen. Immerhin wurde beschlossen – ein seltenes Zugeständnis an die Kräfte des Marktes –, Unterwäsche, Seife, Garn, Tabak und Wodka im Austausch für wilde Pilze und Beeren anzubieten. 32
    Ein NKWD-Bericht über die Stimmung in den Dörfern um die Stadt Borowitschi, östlich von Nowgorod, macht deutlich, welchen Groll diese Maßnahmen hervorriefen. Eine Reihe öffentlicher Versammlungen wurde abgehalten, um Mittel für die Panzerkolonne »Kolchosbauer« aufzubringen, und tatsächlich sammelte man auf den von patriotischen Reden untermalten Zusammenkünften drei Millionen Rubel ein. »Wir sollten der Roten Armee helfen, diese zweibeinigen Bestien aus unserem Land zu jagen«, erklärte eine loyale traktoristka . »Meine drei Söhne sind an die Front gegangen. Einer ist gefallen, aber unser Geld wird den anderen die Waffen verschaffen, die sie für den Sieg über den Feind benötigen.« Viele weigerten sich jedoch offen, Spenden beizusteuern – jedenfalls am Anfang. »Ich habe kein Geld, deshalb werde ich nicht unterschreiben«, sagte eine vierzigjährige Frau. »Es gibt niemanden, von dem ich etwas borgen könnte, und wenn es jemanden gäbe, hätte er kein Geld zu verleihen.« Am Ende der Versammlung war sie jedoch

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