Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
estnischen Grenze zu drängen, doch es dauerte noch bis Juli 1944, bis sie die Pantherlinie durchbrach und die Deutschen aus der Grenzzitadelle Narwa vertrieb. Der Widerstand der Wehrmacht forderte eine hohe Zahl an militärischen Todesopfern, die jener der ersten Kriegsmonate entsprach. Einer der Gefallenen war Wassili Tschurkins siebzehnjähriger Sohn Tolja. In seiner Freizeit suchte Tschurkin nach Toljas Leiche, bis er einsah, dass »es Monate und Monate dauern würde, jeden Toten nur auf dieser kleinen Fläche umzudrehen. Sie waren überall – an beiden Straßenseiten, im Wald, auf Lichtungen. Der Brückenkopf Narwa verschlang eine Division nach der anderen.« 1 In den sechs Monaten seit dem Beginn der Offensive zur Befreiung Leningrads wurden über 150000 Sowjetsoldaten getötet, gefangen genommen oder gingen verschollen – oftmals durch die gleichen ungeschickten Infanterieangriffe, die zwei Jahre zuvor so viele Leben gekostet hatten. 2 Hockenjos, der nach einem Weihnachtsurlaub zu seinen Männern in Gattschina zurückkehrte, schrieb: »Immer wieder muss ich mir von ihnen berichten lassen, wie sie die Russen stets von neuem zusammenschossen und zurückschlugen – die Leningrader Garde, die in unübersehbaren, dicken Haufen mit wehenden roten Fahnen angriff.« Er fragte sich: »Ist das nun russische Sturheit, wenn am hellen Tag 50 Mann aus dem Waldrand herauskommen und durch den Schnee über die freie Fläche auf uns zu stapfen, oder ist es die eiskalte Teufelei eines Kommissars, der irgendwo am Waldrand sitzt und eine Kompanie gegen unsere Stellung treibt, vielleicht nur, um den Einsatz unserer schweren Waffen und die Stärke unserer Abwehr feststellen zu können? Jedenfalls waren es nicht mehr viele, die noch zurückkriechen konnten. Wir schossen sie in aller Ruhe mit unsern Gewehren ab, ohne die schweren Waffen zu bemühen.« 3
Kommissar oder nicht, die Rote Armee rückte vor, und die Wehrmacht wich zurück, wobei sie nur verbrannte Erde hinterließ. (Hockenjos kommentierte verärgert: »… ich könnte die Kerle von den Brandkommandos niederknallen, die da wie die Teufel mit ihren brennenden Strohwischen von Haus zu Haus laufen. Natürlich tun sie es auf Befehl, aber sie haben sichtlich ihren Spaß daran!« 4 ) Passenderweise fand die Heeresgruppe Nord, gefangen auf der lettischen Halbinsel Kurland, ihr Ende ebenfalls durch eine Belagerung. Unfähig zu dem Eingeständnis, dass der Krieg gegen den Bolschewismus verloren war, ließ Hitler die Evakuierung auf dem Seeweg erst im Januar 1945 zu, als die Rote Armee bereits in Deutschland einzog. Mehr als 200000 deutsche Soldaten befanden sich am Tag des Sieges – für Russen der 9., nicht der 8. Mai – noch auf der Halbinsel, als sie vor General Goworow kapitulieren mussten. Ein separater sowjetischer Vorstoß nach Norden über die Karelische Landenge, geführt von Merezkow, endete mit dem finnischen Waffenstillstand vom 19. September 1944. (Tschurkin, der, wie er fand, in einem erstaunlich gepflegten finnischen Bauernhaus untergebracht war, beobachtete, wie General Mannerheims Maschine, begleitet von drei sowjetischen Kampfflugzeugen, nach Berlin flog.) Die Grenze wurde wieder so gezogen wie nach dem Ende des Winterkriegs, womit Finnlands zweite Stadt Wiipuri (das heutige Wyborg) bei Russland blieb – und dort ist sie, bezaubernd, doch schmählich vernachlässigt, noch heute.
Zum Zeitpunkt der Befreiung von Leningrad lebte die mittlerweile zwölfjährige Irina Bogdanowa immer noch in ihrem Kinderheim in der Gegend von Jaroslawl. Die Bekanntgabe wurde, wie sie sich erinnert, mit lautem Jubel begrüßt:
Wir warfen Kissen in die Luft. Dann, nach ein paar Minuten, begann jemand in einer Ecke des Schlafsaals zu weinen. Darauf in einer anderen Ecke ein weiteres Kind, bis wir alle weinten. Und keiner von uns wollte sein Frühstück haben und auch kein Mittagessen. Erst zum Abendessen gelang es den Lehrerinnen, uns in den Speisesaal zu locken. Plötzlich hatten wir begriffen, dass niemand auf uns wartete. Im Kinderheim hatten wir nicht darüber nachgedacht, sondern nur das Ende des Krieges ersehnt. Erst nach dem Sieg mussten wir wieder mit dem Leben – mit allem, was wir verloren hatten – fertig werden. 5
Olga Gretschina, die ihre letzten Monate in der Schule Nr. 43 ableistete, feierte zusammen mit ihren Kolleginnen:
Das Personal kam am Abend zusammen, statt wie üblich in separaten Ecken zu essen. Wodka wurde hervorgeholt; wir sangen, weinten, lachten,
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