Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Volkskommissarin für Fischfang. Eine groteske Pseudoermittlung, bei der man ihr zionistische Spionage und Gruppensex vorwarf, endete mit ihrer Scheidung von Molotow und einer fünfjährigen Lagerstrafe. Für diese hässliche Entwicklung fand Freudenberg ein ebenso hässliches neues Wort: skloka. »Schwer zu erklären, was das ist. Kleinliche, infame Feindschaft, Gruppenbildung und gegenseitiger Haß … außerdem Denunziation, Verleumdung, Bespitzelung, Ränkeschmiederei und geheime Absprachen … Die ›Skloka‹ ist das A und O unserer Politik. Die ›Skloka‹ ist unsere Methodologie.« 33
Anna Achmatowa blieb zwar in Freiheit, doch man ließ sie auf andere Weise leiden. Einer der vielen Tausend, die verhaftet wurden, war ihr siebenunddreißigjähriger Sohn Lew Gumiljow, der sich mit der Roten Armee bis nach Berlin durchgeschlagen hatte und kurz zuvor aus dem Militär entlassen worden war. Vor dem Krieg hatte er mehrere Jahre im Gulag verbracht, und nun verurteilte man ihn zu weiteren zehn Jahren. Trotz der Eingaben seiner Mutter und ihrer gehorsamen Auftragsarbeit (ein Zyklus patriotischer Gedichte mit dem Titel Es lebe der Frieden ) geriet Lew erst durch Chruschtschows Generalamnestie von 1956 in Freiheit. Ebenfalls verhaftet wurde ihr Exmann Nikolai Punin, der nach dem Verschwinden von achtzehn Kollegen öffentlich geäußert hatte: »Wir haben die Tatareninvasion überlebt, und wir werden auch dies überleben.« Man bezichtigte ihn, »die reaktionäre Idee ›Kunst um der Kunst willen‹ zu befürworten«, und verbannte ihn auf die arktische Halbinsel Komi. Aus dem Lager schrieb er seiner Enkelin fröhliche Briefe über Sandburgen, Igel und Pilze, bevor er dort vier Jahre später im Alter von fünfundsechzig Jahren starb. 34
Im selben Jahr fand ein anderer alter Mann ein einsames Ende: Josef Stalin. Die Nachricht wurde mit einer Mischung aus verblüfftem Schweigen und heftiger, kathartischer Emotion aufgenommen. In Schulen stimmten Lehrer mit ihren Schülern Wehklagen an; in Gemeinschaftswohnungen versuchten die Menschen, eine ernste Miene aufzusetzen, oder brachen in Tränen aus; in den Lagern drängten sich die Wächter nervös zusammen, Häftlinge dagegen jubelten und warfen ihre Mützen in die Luft. Hysterische Mengen folgten dem Trauerzug des großen Diktators in Moskau, während in Leningrad ein Mann seinen Parteiausweis verlor, weil er sein Radio während der Grabreden zweimal abgestellt und seine Arbeit in aller Ruhe fortgesetzt hatte. »Wir wurden zweifach belagert«, schrieb Lichatschow, »von innen und von außen.« 35 Die »Belagerung von innen« war noch nicht vorbei, denn die Sowjetunion sollte, grau und repressiv, noch fast vierzig Jahre weiterexistieren. Aber sie würde nie wieder so zerstörerisch sein wie unter Stalin.
23
Der Keller der Erinnerung
Die Hauptgedenkstätte für die Belagerung Leningrads ist der Piskarjowskoje-Friedhof im Nordosten der Stadt, der durch Wohnsiedlungen und die geschäftige Ringstraße geprägt wird. 1960 eröffnet, ist es nach Sowjetmaßstäben ein recht bescheidener Komplex, der eindeutig eher der Trauer als der Feier des Sieges gewidmet ist. Die Massengräber – große, grasbedeckte Hügel, die man jeweils einem bestimmten Jahr zugewiesen hat (ein symbolischer Akt, denn die Bestattungen waren zeitlich nie so gut organisiert) – säumen eine lange Mittelallee. An einem Ende flackert eine Ewige Flamme, transparent im Sonnenschein, am anderen hebt sich die Statue einer Frau mit breiten Hüften und in einem langen Kleid vor den Wolken und dem Himmel ab. In das Fries hinter ihr sind die berühmten – unwahren – Worte von Berggolz eingemeißelt: »Niemand wird vergessen, nichts wird vergessen.«
Weiter entfernt von der Mittelallee setzen sich die Hügel im Schatten von Linden und Birken fort. Hier ist das Gras weniger kurz gemäht, und in den Senken breiten sich Butterblumen und Wiesenkerbel aus. Ein Hügel hat ein Kaninchenloch an der Seite. Es gibt auch Einzelgräber – aus dem neunzehnten Jahrhundert, als dies noch ein gewöhnlicher Friedhof war, doch Aberhunderte davon gehören Soldaten, die in Leningrader Lazaretten starben. Ihre jungen Gesichter – attraktiv, mit abstehenden Ohren, sommersprossig, asiatisch, mit und ohne Brille – schauen in verschwommenem Schwarz und Weiß aus ovalen Keramikmedaillons hervor. Ein Lautsprechersystem macht sich zischend bemerkbar: Beethovens Begräbnismarsch, dessen feierliche Akkorde durch die Brise und den
Weitere Kostenlose Bücher