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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Sowjetunion unterschied«. Der traditionelle Überlegenheitskomplex der Stadt sei durch das Wissen erhöht worden, dass sie ihren »eigenen Kampf«, ohne Moskauer Hilfe, ausgefochten habe. Man höre sogar Gerüchte, dass Leningrad wieder zur Hauptstadt werden würde – wenn nicht der ganzen Sowjetunion, dann der Russischen Republik. 18
    Diese Hoffnungen – auf Komfort, einen gewissen Grad an politischem Pluralismus, auf Kontakt mit der Außenwelt und eine spezielle Rolle für Leningrad – wurden nach dem Krieg fast völlig enttäuscht. Der Lebensstandard erhöhte sich tatsächlich, aber quälend langsam, und für die Leningrader, wie für die anderen Russen, brachten die ersten Jahre des Kalten Kriegs nur erneute Repressionen, die in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren einen Höhepunkt erreichten, bevor sie nach Stalins Tod im Jahr 1953 stark nachließen.
    Im Rückblick liegt auf der Hand, dass es nicht anders hätte sein können. Stalin, der nicht mehr durch den Krieg gezwungen war, die öffentliche Meinung zu beachten, und der aus der Geschichte wusste, dass siegreich aus Europa zurückkehrende Soldaten Revolten entfachen konnten, hatte nicht die Absicht, die Kontrolle zu lockern. Zwar verhaftete das Leningrader NKWD im Jahr 1944 weniger Personen wegen politischer Verbrechen als sonst (insgesamt 373), doch das lag nur daran, dass es sich darauf konzentrierte, angebliche Kollaborateure in den gerade befreiten Ortschaften der Umgebung aufzuspüren. 1945 stieg die Zahl der Verhaftungen wieder an. 19 Auch die Zensur, die sich während des Krieges ein wenig entspannt hatte, wurde wieder strenger, besonders im Hinblick auf den Massentod von 1941/42. Im Tagebuch einer behinderten Zwanzigjährigen wird nicht nur der Hungertod ihres Schach spielenden Vaters verzeichnet, sondern auch die Entdeckung von zerstückelten Leichen in der Wohnung eines benachbarten Musikers. Sie las die Schilderung ihren Freunden laut vor; einer von ihnen zeigte sie an, und sie wurde für sechs Jahre in den Gulag geschickt. Schließlich hatten Geiger laut der offiziellen Version die Belagerung nicht damit verbracht, Kinder zu essen, sondern mit fingerlosen Handschuhen Schostakowitsch zu spielen. 20 Inber kritisierte Berggolz, weil diese weiterhin »traurige, altmodische« Dichtung vorlege, nur um festzustellen, dass ihre eigene Arbeit auf einer Sitzung des Schriftstellerverbands als »abstoßend«, »kindisch« und als »qualvoll zu lesen« verurteilt wurde. 21 Im Rundfunkhaus befahl man dem Personal, Kriegsaufzeichnungen improvisierter Interviews mit gewöhnlichen Bürgern zu zerstören. Stattdessen verbargen die Angestellten die Filmrollen unter ihren Mänteln und nahmen sie mit nach Hause oder legten sie in Schachteln mit dem Etikett »Volksmusik« ab. Freudenberg, die den Auftrag erhielt (vom NKWD, wie sie zu ihrem Leidwesen entdeckte), Berichte von »Leningrader Heldinnen« zu sammeln, wurde in Richtung »Lieblingsthemen der Behörden« gewiesen. »Alles Lebendige, alles Echte war unzulässig … Obwohl mir viel unglaublich Tragisches mündlich mitgeteilt wurde, wagte niemand, die Wahrheit niederzuschreiben.« 22
    Die letzten Hoffnungen auf einen »Leningrader Frühling« wurden, sehr öffentlich und sehr bewusst, im Sommer 1946 durch Strafmaßnahmen gegen die Intelligenzija zunichtegemacht. Eingeleitet von Stalin, wurde die Kampagne Schdanow – dies war eine implizite Kritik an seiner Leitung der Leningrader Partei – übertragen. Er war inzwischen nach Moskau zurückgekehrt und wurde weithin als Stalins Nachfolger gehandelt. Als Opfer wählte er Anna Achmatowa und den Satiriker Michail Soschtschenko, einerseits wegen ihrer Popularität (»Ich wusste in dem Moment, als ein Mädchen auf mich zulief und auf die Knie fiel, dass ich zum Untergang verdammt war«, sagte Achmatowa nach einer triumphalen öffentlichen Poesielesung) und andererseits, weil sie den klugen, skeptischen, europhilen Leningrader Geist verkörperten. Wie der Schriftsteller Konstantin Simonow es in seinen Erinnerungen formulierte:
    Ich glaube, der Angriff auf Achmatowa und Soschtschenko galt nicht ihnen speziell … Stalin war immer misstrauisch gegenüber Leningrad – ein Gefühl, das er seit den zwanziger Jahren pflegte, ein Gefühl, dass man dort eine geistige Autonomie schaffen wollte … Damals dachte ich: »Warum Achmatowa, die nicht emigriert war und während des Krieges so viele [Dichter-]Lesungen abhielt?« … Es war eine Methode, die

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