Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
langen Gebrauch verzerrt werden. Als er wieder verklingt, sind nur Vogelgesang und ferner Verkehrslärm zu hören.
Wie alle derartigen Stätten wird auch der Piskarjowskoje-Friedhof den Ansprüchen nicht gerecht. Statuen, Landschaftsgärtnerei, Dichtung – nichts davon kann das ausdrücken, was über eine Tragödie der Leningrader Dimension gesagt und empfunden werden sollte. Einem heutigen Besucher ist eine angemessene Reaktion vielleicht ohnehin unmöglich. Er kann sich nur die nötige Zeit nehmen, sich die Ereignisse vergegenwärtigen, seinen Respekt erweisen. Der Belagerung zu gedenken war für den sowjetischen – wie für den heutigen russischen – Staat problematisch. Bis zu Stalins Tod rückte die Belagerung in den Hintergrund, denn sie erinnerte auf peinliche Art an die katastrophalen ersten Stadien des Krieges. Kein Ehrenmal für die Verhungerten wurde errichtet, in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen erwähnte man sie, spielte ihre Zahl jedoch erheblich herunter, und Gesetze gegen die Bettelei hatten zur Folge, dass Tausende kriegsversehrter Soldaten von den Straßen verschwanden und fortan auf der alten Klosterinsel Walaam im fernen Norden des Ladogasees leben mussten. Die Massengräber wurden eingezäunt und von Nesseln und Dornensträuchern überwuchert.
Unter Chruschtschow beseitigte man einen Teil des Gestrüpps. Außerdem ließ er, nach einer lebhaften öffentlichen Debatte über eine geeignete Stätte, den Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof anlegen und gestattete die Veröffentlichung von Dmitri Pawlows (für die damalige Zeit) freimütigem Bericht über die Lebensmittelversorgung während des Krieges. Das Dickicht wuchs dann allerdings in anderer Form unter Breschnew nach, der die Belagerung in seinen Kult um den Großen Vaterländischen Krieg, gedacht als Ersatz für den verblassenden Zauber des Marxismus-Leninismus, einbaute. In dieser Version rückte das Leid der Zivilbevölkerung wieder in den Vordergrund, doch in abstrakter, gleichsam sterilisierter Form. Die Extreme des Horrors wurden auf leicht zu verkraftende Symbole – Kälte, Dunkelheit, Kinderschlitten, burschuika – verkürzt, und der herzzerreißende moralische und gesellschaftliche Zusammenbruch geriet zu einer inspirierenden Erlösungsgeschichte. Die Leningrader seien selbstlose, disziplinierte Helden gewesen, die in ihrem Glauben an den Sieg nie geschwankt hätten. Wer in der Stadt überlebte, habe schon dadurch zu ihrer Verteidigung beigetragen, und wer an Hunger starb, habe den Tod edelmütig, in einer Art ekstatischer Trance, auf sich genommen. Aus diesem Märtyrertum sei ein gehärteter, geläuterter, ganz besonderer Menschenschlag hervorgegangen. Leningrader Jungen und Mädchen sollten, wie die extravagantesten Schönredner des Kultes forderten, nur einander heiraten. 1
Versuche, die Belagerungsgeschichte realistischer zu erzählen, trafen auf entschlossenen Widerstand. Als Harrison Salisbury seinen Klassiker 900 Tage (der jedoch seinerseits romantisiert war, besonders in Bezug auf Woroschilow und Schdanow) im Jahr 1969 veröffentlichte, wurde das Buch nicht nur von der Prawda , in einem Artikel mit Schukows Namen als Verfasser, sondern auch von der westlichen Linken angegriffen. 2 Auf Russisch erschien es erst 1994, sechs Monate nach Salisburys Tod. Die bahnbrechende mündliche Überlieferung Das Blockadebuch , zusammengestellt von dem Historiker Ales Adamowitsch und dem Romanschriftsteller Daniil Granin, geriet bei der Erstveröffentlichung im Jahr 1979, trotz über sechzig Kürzungen durch die Zensoren, ebenfalls unter Beschuss. Der Knebel galt nicht nur für das Thema Belagerung, sondern für die partikularistische »Petersburger« Geschichtsschreibung im Allgemeinen. Schostakowitschs Gehilfe Solomon Wolkow, der in den frühen siebziger Jahren versuchte, ein Buch über Leningrader Komponisten zu veröffentlichen, stand immer wieder vor diesem Problem: »Allein der Gedanke an eine Petersburger oder Leningrader Kultur wurde unterdrückt. ›Was ist so speziell an dieser Kultur? Wir haben nur eine einzige Kultur – die sowjetische!‹« 3
Die Schleusentore öffneten sich in den späten achtziger Jahren mit Gorbatschows Politik der Glasnost (»Offenheit«), die dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Sowjetunion vorausging. Mit einem Mal wurde es möglich, die Belagerung einer wirklichen Analyse zu unterziehen. Der Terror der Kriegszeit konnte zum ersten Mal offen kritisiert werden, ebenso wie die sinnlose
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